Es gibt Tage, an denen glaube ich, klar zu sehen. An denen meine ich, den großen Philosophen auf der Spur zu sein, die das Universum begriffen haben. Und dann komme ich wieder an den Punkt, an dem ich mich umschaue und verloren bin, weil mein Blick zu lange in die Weite ging. Seid ihr schon einmal spazieren gegangen und habt den Himmel bewundert? Wolkenformationen, die Tiefe des Blaus und das Spiel von Wind und Licht? Wie hat es sich angefühlt, als ihr den Blick wieder auf euren Weg gerichtet habt? Standet ihr mitten auf einer Wiese und wusstet gar nicht, wie ihr dorthin gekommen seid? Könnt ihr euch nicht an die Bäume erinnern, an denen ihr vorbeispaziertet? Oder befindet ihr euch noch auf dem Kiesweg, den ihr entlanggingt, aber plötzlich nicht mehr auf der rechten sondern auf der linken Seite? So geht es mir oft, wenn ich in die Weite blicke und dann wieder zurück zur Nähe… Die Klarheit weicht Fragen und sosehr ich zuvor verstanden habe, sosehr befremdet mich, was ich nun sehe… vom Sinn des Lebens zurück zur alles entscheidenden Frage: „Warum?“
Der Versuch steht im Zentrum
Auch wenn ich der Astrologie nicht sonderlich zugetan bin, so empfinde ich mein Sternzeichen Waage extrem zu mir passend, denn Harmonie, Ausgleich und Gerechtigkeit prägen mein Wesen. Diese Größen suche ich in der Welt, in anderen und in mir. Und die Welt schickt mir Gegenstücke…
Gerade bin ich aufs Extremste zerrissen und gleichzeitig in perfekter Balance. Widerspricht sich das? Wenn die Waagschalen auf beiden Seiten aufs Äußerste gefüllt sind, entsteht auch ein Gleichgewicht, die Gefahr der Dysbalance ist nur größer. Passend, dass ich immer, wenn jemand die Welt als besonders grausam deklariert, entgegenhalte, dass sie genauso schön wie schrecklich sei. Das beobachte ich derzeit an meinen Mitmenschen und obgleich ich Verständnis für bestimmte Verhaltensmuster habe, fehlt der Funke des Begreifens, die Erklärung für das Warum? Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich Großherzigkeit und Liebe (mit)erleben und erfahren darf, wenn jemand selbstlos hilft, beisteht, unterstützt. Und mir wird schwindlig vor Übelkeit, wenn ich beobachte, wie andere sich selbst belügen, fordern aber nicht geben, verstanden werden wollen aber nicht verstehen, nicht fähig sind zu vertrauen. In meinem Alltag gibt es beides, grenzenlose Herzlichkeit und abgrundtiefe Niedertracht. Beides habe ich in der näheren Vergangenheit zu spüren bekommen… aber warum?
WARUM?
Ich glaube, mit Ungleichgewicht selbst kann ich umgehen, denn das gestaltet sich vor allem als Abwesenheit eines gleichschweren Gegengewichts. Aber Widersprüche stoßen bei mir auf eine Barriere oder ich stoße darauf… aber resultieren Widersprüche vielleicht einfach aus einer großen, verworrenen Ansammlung an Ungleichgewicht? Ist mein Fassungsvermögen nicht groß genug, um es zu durchdringen? Es ist nicht so, als gäbe es keine mir plausibel erscheinenden Begründungen für gewisses Verhalten. Man kann Angst und Feigheit, Gier und Egoismus als Grund angeben und das macht auch Sinn, schließlich gehören diese Schattenseiten zum Menschsein dazu… (Oder? Hier kommen wir zu dem Rätsel, das ich definitiv für mich selbst noch nicht gelöst habe…)… Egal jedoch, woher diese Eigenschaften kommen, ob sie dem Menschen von Natur aus eigen sind, ob sie notwendigerweise entstehen, um ein Gleichgewicht herzustellen oder ob sie anerzogene bzw. sich entwickelnde Parasiten zur Eindämmung sind, sie existieren und sind im menschlichen System in irgendeiner Weise aktiv. Bei manchen mehr, bei manchen weniger. Es fällt mir wesentlich schwerer, die dunkle Seite des Menschen zu verstehen – vermutlich, weil ich mich definitiv der hellen Seite zugehörig fühle. So schwer das auch zu glauben ist, aber ich meine das vollkommen wertfrei an dieser Stelle, ohne Arroganz, ohne Stolz. Ich sehe mich als Gefühlswesen, das Positives liebt, das von Herzen gerne hilft und gibt, das sich im Falle einer Wahl für das Gute entscheidet, auch wenn das mit mehr Arbeit, mit Konsequenzen oder Entbehrung zu tun hat, das Wahrheit über alles stellt. Das macht mich nicht frei von Finsternis, eher wie eine Seite des Yin und Yang – wie eine Hälfte, die jedoch das Gegenstück in seiner Mitte einschließt. Ein Tropfen Schwarz im Weiß, ein Tropfen Weiß im Schwarz… oder zu einem Jedi-Ritter, der bemüht ist, die Extreme auszugleichen… und wenn die Republik in vollständiger Friedlichkeit erhalten bleibt, wird sie im Gleichgewicht verharren, bis sich erneut ein Lord der Sith erhebt und der Kreislauf von neuem beginnt… ja, es ist ein Kreislauf, eine Sequenz aus Wiederholungen, eine Spirale…
Eins und alles
Ich würde so gerne das große Ganze verstehen. Wenn ich einzelne Bereiche anschaue, erscheinen sie mir klar und deutlich, völlig logisch und zusammenhängend. Wende ich meine Augen auf einen anderen Abschnitt richte, ist das ebenso. Es gelingt mir auch, mehrere Teile miteinander zu verbinden, schließlich basiert alles auf dem einen Grundprinzip, auf einer Frequenz, auf einem Muster, auf einer Welle… nennt es, wie ihr wollt. Aber alles miteinander in Verbindung zu setzen, daran scheitert es noch. Da ist es, als fehlten mir die Hände, um alles festzuhalten. Wahrscheinlich, weil kein Mensch in seinem irdischen Dasein das Grundmuster kennen kann. Erahnen ganz sicher, aber vollkommen verinnerlichen – nein. Ich denke, dazu sind wir zu unvollkommen und Unvollkommenheit widerspricht diesem Urprinzip. Aber genau das ist es, was Menschen sind, was sie ausmacht: Unvollständigkeit. Wir sind die Spezies des Versuchens. Wir sehen Perfektion um uns, denn die Natur, die Welt, das Universum – sie sind vollkommen. Wir sind es nicht, aber wie die Fliege zum Licht, der Ertrinkende zum Wasser, der Suchende zum Glück, wir streben nach dem, was wir nicht sein oder haben können, wir recken und strecken uns der Ganzheit, dem Absoluten entgegen und auch wenn wir glauben, nur noch einen fingerbreit davon entfernt zu sein, wir können nicht zupacken. Widerspräche sich das nicht auch? Vielleicht sind wir in unserem Dasein das Gegengewicht zur Perfektion, vielleicht sind wir schon ein Teil von ihr? Vielleicht sind wir der Tropfen Unvollkommenheit im Perfekten und enthalten einen Tropfen Perfektion in unserer Unvollkommenheit? Vielleicht braucht das Vollkommene das Unvollkommene, um ganz zu sein. Vielleicht besteht genau darin die Perfektion, dass etwas Fertiges immer Makel hervorbringt und Unfertiges Makel ausmerzt? Ist es ein Tanz von zwei sich abstoßenden Magneten, die sich ständig umkreisen, aber nicht berühren können? Ist es eine Spirale in die Unendlichkeit – zwei Stränge, die nicht voneinander loszulösen sind und doch drehen sie sich immer umeinander, ohne sich je vollkommen zu vereinigen? Anziehung und Abstoßung… Erschaffung und Zerstörung… Leben und Tod… kann ich darum die Antwort nicht finden, die finale Lösung für das Rätsel? Besteht meine Aufgabe darin, es zu versuchen? Darin, die Frage zu stellen? Ist das meine Bestimmung?
Dann ist die Frage nach dem Warum ja ganz leicht zu beantworten: JEIN! Oder wie seht ihr das?