Das Leben ist zurück. Mein Leben. Irgendwie, irgendwie auch nicht. Denn vieles ist anders. Der neue Alltag mit Blindenführhund, die Corona-geprägte Zeit, ein verändertes Ich. Die vergangenen fünf Jahre setzte ich mich intensiv mit meiner Sehbehinderung auseinander, etwas, das ich zuvor immer nur beiläufig getan hatte. Eher als Begleiterscheinung, die mich viel Energie kostete. Ein Aspekt an mir, für den ich ständig Workarounds suchte, den ich kompensierte, so gut es ging. Wie einen Anhang. Ich verhielt mich zu meiner Sehbehinderung wie der Rest der Gesellschaft Behinderten gegenüber. Im besten Falle semi-inklusiv.

Inkognito-blind

Wie sah das konkret aus? Ich lebte im Großen und Ganzen als Sehende, sozusagen inkognito-blind. Ich outete mich nur dann, wenn es nötig wurde. Vieles klappte mit Tricks und Anstrengung ziemlich gut. Mit einem lichtbedingt variierenden Visus von 2-10 Prozent und einem Gesichtsfeld von 5 Grad kommt man weit, wenn man es drauf anlegt.

Wieso ich das machte? Nun, meine Sehbehinderung war mir nie peinlich, aber es ging eben. Erschien mir schlicht normal. Und da ich besonders durch Mobbing in der Schulzeit eher negative Erfahrungen gemacht hatte (man hielt mich für arrogant, weil ich weiterentfernte Mitschüler nicht grüßte oder von den Lehrern „bevorzugt“ wurde, weil ich Klausuren länger schreiben durfte), war ich nicht scharf darauf, meine Behinderung in den Vordergrund zu stellen. War das gut? Schlecht? Es war einfach so, ganz wertfrei. Und ich will dir nichts vormachen: ich bin dankbar dafür, dass ich es so gemacht habe, dass ich nicht als „blind“ gebrandmarkt aufgewachsen bin. Vielmehr durfte ich meine Persönlichkeit frei von den meisten Blindenklischees entfalten. Niemand diktierte mir, was Sehbehinderte alles können oder nicht können. Ich machte einfach, suchte Wege und Lösungen und alles klappte. Abi. FSJ. Studium. Beziehungen.

Alles hat seinen Preis

Es war tonnenschwer, zutiefst einsam und furchtbar anstrengend. Es kostete zu viel Kraft, war unharmonisch und passte nicht in mein Konzept von Selbstliebe. Höchste Zeit, meine fast blinden Augen – die mich immerhin schon von Geburt an begleiten – richtig und bewusst zu inkludieren. In meinen Alltag, in meine Denkweise, in mein Selbstbild. Dazu habe Ich Fragen gestellt, gezweifelt, Selbstgespräche geführt, mich mit anderen ausgetauscht, meine Schlüsse gezogen, meine Sichtweise erweitert, mich selbst reflektiert. Wer bin ich? Wie sehe ich mich? Wie stelle ich mich in all meinen Facetten in den Kontext der Gesellschaft? Wie gehe ich mit Vorurteilen um? Wie verbinde ich Würde und Hilfsbedürftigkeit? Wie vereine ich Sexualität, meine Weiblichkeit und Blindenklischees? Wie lassen sich Authentizität und Behinderung kombinieren? Wie will ich leben mit allen Eigenschaften, die mich ausmachen – von der Lebenslust über die weiten Gedanken bis hin zu meiner Behinderung?

Selbstinklusion

Auf diesem Weg der Selbstinklusion begleitete und half mir sowohl das Gelernte aus meinem Philosophiestudium als auch meine Gabe, Gefühle und Gedanken präzise in Worte zu fassen. Auch mein Blog war ein wesentlicher Bestandteil der Reise.

Aus den Antworten ergaben sich Wünsche und Ziele, für die ich kämpfen musste. Am Anfang galt es, das Nicht-Wissen zu überwinden und herauszufinden, welche Hilfen, Rechte und Möglichkeiten ich hatte. Dabei waren Halbwahrheiten, Subjektivität und Bürokratie kontinuierliche Stolpersteine.

Doch ich wühlte mich eisern durch, gab nicht auf. Ich brauchte eine Arbeitsplatzausstattung, um unangestrengter arbeiten und leistungsfähig bleiben zu können. Das Merkzeichen Bl, um all die Erleichterungen einzufordern, die mir rechtmäßig schon mein Leben lang zugestanden hätten. Den Mut, das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, trotz Sehrest meinen Langstock zu nutzen, um andere auf meine Situation aufmerksam zu machen und etwas von der Verantwortung abzugeben. Blindengeld, um mir Nützliches und Zeitsparendes außerhalb des Hilfsmittelkatalogs zu finanzieren wie mein iPhone, schnelle Zugverbindungen und eine 4-Tage-Arbeitswoche. Und meinen Blindenführhund, von dem ich mir Sicherheit, Gelassenheit, Kameradschaft und Flexibilität versprach. Ich stellte mich all diesen Kämpfen und gewann.

Gewinn und Verlust

Ich riskierte etwas und bekam viel dafür. Und doch habe ich auch einiges verloren. Liebe Freunde, die keinen Platz für sich in meiner Veränderung sahen oder die nicht mehr zu mir passten. Kleine, liebgewonnene Ideen, die größeren Projekten weichen mussten. Alte Ansichten, die mir früher Sicherheit gaben, an denen ich festhalten konnte. Vieles habe ich aufgegeben. Denn nur, wo genügend Raum ist, kann Neues entstehen. Nur, wenn Zeit dafür ist, kann man sie nutzen. Nur, wo Gedanken weich und flexibel sind, kann qualitative Veränderung stattfinden. Also ließ ich los, was mich hielt, fesselte, blockierte. Manches fiel leicht, anderes tat weh – schmerzt noch heute. Alles hat seinen Preis. Auch und ganz besonders Selbstfindung. Jetzt fühlt es sich so an, als wäre diese Phase zu Ende und ein Neuanfang nimmt ihren Platz ein.

Wie geht es weiter?

Es war ein intensiver Prozess und auch wenn dieser sicherlich nie abgeschlossen ist, sondern mich stetig begleiten und sich mit mir entwickeln wird, so bin ich nun an einem Punkt, an dem ich ES EINFACH LEBEN will!

Von der Theorie in die Praxis, vom Werden zum Sein. Ich will da rausgehen und mein im Gedankenfeuer geschmiedetes Ich in die Welt schleudern. Will mich prüfen, Neues ausprobieren und Herausforderungen annehmen. Mein errungenes Equipment testen.  Gleichgesinnte finden, um Höhen, Tiefen und alles dazwischen zu teilen! Die neugewonnene Leichtigkeit genießen. Noch mehr Gelassenheit lernen und Routine gewinnen. Sehende und Blinde mit mir konfrontieren auf eine gute, ergiebige Art und Weise. Ich will sie auskosten, die erkämpften und erarbeiteten Freiheiten, Hilfsmittel und Denkweisen. Und mich!

Wer ich bin? Ich bin Spiderman. Quatsch 😉 Ich bin Lizzi: Lebenslustig. Sehbehindert. Positiv. Philosophin auf Reisen.

Wer bist du? Hast du Ähnliches erlebt? Hast du auch eine gravierende Selbstfindung durchlebt? Erzähl bitte!

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3 Kommentare zu „Mein Weg zur Selbstinklusion

  1. Hi Vanessa,
    ja, wenn man es „irgendwie hinbekommt“, versucht man natürlich gerne „durchzukommen“, weil man eben nicht die ganzen Blindenklischees und seltsame Behindertensonderbehandlung möchte. Man möchte als Persönlichkeit, als Mensch hinter der Behinderung nicht verloren gehen. Und wenn man dann irgendwann feststellt, dass das viel zu anstrengend auf Dauer ist oder wie bei dir leider schlicht nicht mehr geht, dann muss man sich den Tatsachen stellen und selbst in die Situation hineinwachsen, lernen und verändern.

    Aber eines ist sicher: ob mit oder ohne Stock, mit oder ohne Hund, du bist und bleibst eine tolle Person!

    Liebe Grüße
    Lisa

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  2. Ich finde es super, wie du deine Gedanken verschriftlicht. Ich habe bevor ich mein Leben schon bekam und man sehen immer schlechter wurde, genau das selbe durchgezogen, ich habe den Stock verweigert, nie eine Sonnenbrille getragen und so weiter. So langsam merke ich aber, dass die Erblindung immer näher rückt, es nicht mehr zu vermeiden ist mit Hund und wenn nötig mit Stock durchs Leben zu gehen.

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