Mein Langstock und ich
Nein, ich und mein Langstock! Oder Zauberstab, wie ich ihn nenne. Weil er Autos magisch anhalten lässt, weil er Fußgänger aus dem Weg zaubert, weil er wortlos erklärt, weil er Unsichtbares sichtbar macht … weil er mir Macht verleiht. Macht, Gelassenheit und Stärke. Seit Neustem.
Kennzeichne ich mich gar nicht, liegt alle Verantwortung bei mir. Streife ich diese furchtbar hässlichen Outfitzerstörenden Blindenbinden über, gebe ich den Druck ein bisschen ab, doch diese Wahl ist insofern problematisch, als dass man ihre Bedeutung kennen muss. Das ist nicht bei jedem der Fall – weder national noch international. Ein Langstock dagegen erklärt sich selbst, er hat eine klare Funktion und diese schafft Bedeutung.
Aber brauche ich den Langstock wirklich? Bin ich eine Simulantin, wenn ich ihn nutze, obwohl ich noch etwas sehe? Wie kommt das denn rüber, wenn ich ihn manchmal verwende und manchmal nicht?
Ganz einfach: das ist verdammt nochmal allein MEINE Sache! Auf diese Fragen hat nur eine Person die Antworten, die mich wirklich interessieren und das bin ich!
Und ich sage: Ja, hin und wieder (ge)brauche ich den Stock, ob ich nun grade lichtbedingt hochgradig sehbehindert oder blind bin. Wenn es mir zu hell ist, zu voll, zu stressig, zu viel. Dann nutze ich ihn ohne schlechtes Gewissen – zu meinen Bedingungen. Auch, wenn ich den Bahnsteig vor mir wunderbar erkennen kann. Einfach, damit mir die Menschen aus dem Weg gehen. Ich kann nicht auf sie achten, weil sie mir durch meinen Tunnelblick durch die Wahrnehmung rutschen. Sie hingegen können sehr wohl aufpassen und mit dem Langstock zeige ich ihnen, dass das auch nötig ist.
Wenn das Licht günstig ist, packe ich den Faltstock in die Tasche und navigiere mich visuell durch die Welt, durch mein Leben. Genau, durch MEIN Leben, ein Leben mit Behinderung und mit vielen Barrieren. Manche davon bremsen mich vielleicht aus, aber ganz sicher lasse ich nicht zu, dass das, was andere über mich denken könnten, auch zu einer Barriere für mich wird. Meine Grenzen setze ich mir selbst!
Und was ist mit Kollegen? Freunden? Familienmitgliedern? Na, was denkst du wohl? Wenn jemand plötzlich weniger von mir mit Zauberstab hält, dann hat derjenige in MEINEM Leben keinen Platz. Wenn ein Stock über Zuneigung, Respekt und Liebe entscheidet… hahaha, guter Witz. Ich glaube, das kann nicht mal ein Zauberstab.
Alle Unklarheiten beseitigt? Dann eben Runde Zwei mit der Zauberei
Also, nach Jahrzehnten Sendepause und fingerdicken Staubschichten, feiert mein Langstock sein Comeback. Warum nicht, es verdient schließlich jeder eine zweite Chance. Und diesmal können wir beide gut miteinander. Wir ergänzen uns. Sind uns einig.
Dennoch ein ungewohntes Bild, denn der Weiße und ich kamen früher nicht besonders gut aus. Er stiehlt mir die Show, dachte ich und wollte nicht nur „die Blinde“ sein, sondern einfach ich – Lisa. Ohne Stempel, ohne Schublade. Und das ging gut. Da ich noch ein bisschen sehe und selbstständig bin, kann ich mich durchmogeln, wenn ich möchte. Aber… es kostet so viel Kraft! Es frisst mich auf… brennt mich aus… und ich habe doch noch so viel vor, will so viel erleben, so viel ausprobieren, so viel schaffen… das Leben in vollen Zügen auskosten! Dafür braucht man Energie – oder Magie? Auf jeden Fall viel Kraft. Wie doof wäre es denn, wenn ich mir und genau solchen Kräften selbst im Weg stehen würde?
Was lange währt, wird endlich… anders
Diesmal vertragen wir uns. Was hat sich verändert? Die Gesellschaft? Die Umwelt? Nein, ich natürlich! Ich kann weder meine Behinderung noch das Denken der Menschen ändern. Nur meine eigene Einstellung. Und ich habe mich entschieden, den Langstock als Kumpel zu sehen. Als Möglichkeit. Als Zauberstab. Auch wenn ich ihn nicht brauche, um Wege zu finden, um mich zu orientieren… er schafft mir eine Bühne, einen freien Raum, in dem ich mich sicher und selbstbewusst bewegen kann. Er richtet den Scheinwerfer auf mich und ich bin jetzt bereit dafür, ertrage das Licht. Früher mochte ich ihn nicht, weil ich glaubte, er würde mich klein machen, allen meine Schwäche offenbaren. Aber wie soll das bitte gehen? Ich bin NICHT schwach! Und NICHT arm! Und NICHT hilfsbedürftig!
Wenn mich jemand so sieht, ist das sein Problem. Nicht meins. Ich weiß ganz genau, wer ich bin und ein Stock kann daran gar nichts ändern. Nicht mal ein Zauberstab. Außerdem ist es MEIN Zauberstab! Der zaubert, was ich will 😏
Na, was denkt ihr dazu?
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Lieber Jan,
wow, da hast du ja auch einen langen Prozess hinter dir mit Langstock-Verweigerung, -Annäherung und -Akzeptanz sowie eine OP! Für mich hört es sich jedoch so an, als seist du mit dir im Reinen und kommst sehr gut zurecht. Ich LIEBE solche Geschichten!
Mittlerweile habe ich noch was besseres als den Langstock entdeckt 😉 Kommt im Vereinsboten 1/2021 oder direkt hier auf meinem Blog: Vier Wochen mit vier Pfoten #1 – Blinddate mit Blindenführhund
Wenn deine Frau und du so gerne wandert, vielleicht trifft man sich mal bei einer Wanderung 🙂 Ich bin am liebsten mit dem Bewegungszentrum Pfulb unterwegs – authentisches Wandern!
Ganz liebe Grüße und einen super Start ins neue Jahr!
Lisa
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Hallo Lizzi,
durch diesen Beitrag, den ich zuerst im Vereinsboten Ausgabe 4/2020 des BSV gelesen habe, bin ich auf dich aufmerksam geworden und auf diese Seiten gestoßen. In vielen Situationen, die du in diesem Beitrag sehr authentisch beschreibst, habe ich mich wiedergefunden. Nein, mit einem weißen Langstock als Sehbehinderter oder Blinder wollte ich mich auch lange nicht outen. Weil ich mich schämte. Warum? Weil mich viele in der kleinen Stadt kennen und … genau wie es du beschreibst. Es ging bei mir auch viele Jahrzehnte gut ohne den weißen Langstock, denn ich sah noch ca. 5 Prozent und das Gesichtsfeld war noch einigermaßen vorhanden. Aber dann wurde das Sehvermögen schlechter und … der weiße Langstock „drohte”. Meine Frau hatte die Hürde zum Langstock schon 10 Jahre vorher überwunden und war danach froh darüber, dass sie diesen Schritt vollzogen hat. Ein Beinahe Unfall brachte mich entgültig zum umdenken. „Jetzt ist es mir egal, was die anderen tuscheln und denken, ich muss für mich und meine eigene Sicherheit sorgen”, sagte ich mir und nahm ab da den 2. Langstock von meiner Frau, die mir von Ihrem Mobilitätstraining einiges vermitteln konnte. Anfangs konnte ich den Stock in meiner Wohngegend zusammenklappen, denn dort kenne ich jede Ecke und jeden Absatz. Das sehen wurde jedoch immer trüber und ich benötigte den Stock nun ab der Haustüre. Um mich draußen noch sicherer zu bewegen war nun ein Mobilitätstraining angesagt. Eigentlich wollte ich so was gar nicht, da ich lieber gerne wie früher gesehen hätte und mich wie früher ohne Langstock bewegt hätte. Aber die Alternative gab es nicht. So beantragte ich bei meiner Kasse erst mal 20 Stunden Mobilitätstraining und bekam dieses auch ohne Probleme genehmigt. Ich verbinde seit dem eigene Techniken mit dem im Training gelerntes und komme damit ganz gut zurecht. Es bewahrte mir meine selbständige Mobilität. Ja, der Langstock hat manchmal wundersame Auswirkungen und „zaubert” einem Wege frei!!! Ich traue mich heute wieder, wie früher, (fast) überall alleine mit dem ÖPNV hinzufahren, da sich mein Sehvermögen nach einer OP wieder ein klein wenig verbessert hat.. Ich reise sehr gerne mit dem Zug, wenn sie zuverlässig fahren. Mache gerne Tagesausflüge mit längeren Wanderungen durch Natur. Erkunde dabei auch gerne neue Touren. Diese plane ich vorher miteiner App auf dem Smartphon. Das CPS-Signal führt mich und meine Frau, oder auch schon mal eine Wandergruppe sicher, zusammen mit dem Langstock durch die gewünschten Wege. Und wenn das „Navi” unterwegs einmal ausfällt, ja dann…??? Dann hilft mir eben mein inneres „Navi”, denn ich habe einen sehr guten Orientierungssinn. Bisher habe ich immer wieder gut nach Hause gefunden, auch wenn meine Frau im Gegensatz zu mir manchmal zweifel hatte!!! Mittlerweile vertraut sie sowohl meinem Navi auf dem Smartphon, als auch meinem inneren Navi!!!
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