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Was für vollblinde Blindenführhundhaltende selbstverständlich ist, ist für mich Zwischenweltlerin mit Sehrest eine riesige Herausforderung. Heute habe ich sie gemeistert: ich habe auf einer Strecke von 20 Minuten die Augen geschlossen gehalten und mich vollkommen von meinem Blindenführhund Harry führen lassen.

„Hä, kommt da noch was?“ denkst du vielleicht. Klingt jetzt nicht sehr beeindruckend. Ich weiß. Und doch, für mich ist es das. Für mich war das eine große Leistung, die viel Überwindung, Vertrauen und Mut gekostet hat. Weil ich es gewohnt bin, meinen lichtabhängigen Sehrest zu nutzen. Weil ich nicht gerne die Kontrolle abgebe. Weil ich bisher immer selbst nach mir geschaut, auf mich aufgepasst habe. Das sind Dinge, die tief in mir stecken.

Auch, wenn ich denke, dass ich mich voll und ganz auf Harry einlasse – mit offenen Augen beeinflusse ich seine Führarbeit unbewusst. Das sind Aspekte, die ich kaum greifen, die ich nicht abstellen kann. Winzige Signale wie meine Körpersprache. Die Selbstsicherheit, die in meinen Schritten schwingt. Die Intensität, mit der ich den Führbügel halte. Selbst wenn ich mir größte Mühe gebe, meinen Sehrest nicht aktiv ins Führen einzubringen – das gelingt nur bis zu einem gewissen Grad.

Blindgang mit Lerneffekt

Mein Blindgang beweist es mir. Harrys Führen war anders. Und zwar sehr. Keine kaum erahnbaren Nuancen, sondern handfeste Tatsachen. Am deutlichsten habe ich es am Überqueren von Straßen bemerkt. Meinem Blindenführhund wurde beigebracht, am Bordstein stehen zu bleiben, bis Frauchen mit dem Kommando „Rüber“ das Go gibt. Auf der anderen Straßenseite angekommen, wird mit den Pfoten der andere Bordstein, der auf den Gehweg führt, angezeigt.

Wenn ich die Augen offen habe, lasse ich Harry den zweiten Bordstein überlaufen. Das hatte ich mit meiner Trainerin so abgesprochen. Ich stehe einfach nicht gerne so lange auf der Straße. Als ich nun die Augen zu hatte, zeigte Harry ohne Aufforderung den zweiten Bordstein an. Ein deutliches Zeichen für mich, dass er ganz eindeutig den Unterschied erkennt, ob ich schaue oder nicht.

Ein anderes Beispiel: mein Hund ist der Meinung, dass Frauchen mit offenen Augen gefälligst selbst gucken kann, dass sie nicht in Pfützen tritt. Bei meinem 20-minütigen Blindgang behielt ich trockene Füße. Wunderte mich etwas über gefühlte Schlenker, die sich im Nachhinein als Pfützen entpuppten. Wenn das nicht klar und deutlich ist.

Augen zu und mehr erleben

„Wenn ich unsicher bin, mache ich die Augen zu“, sagte eine Freundin, die ebenfalls einen Blindenführhund hat. Diese Worte haben mich sehr bewegt und beschäftigt. Weil es genau das Gegenteil von dem ist, was ich in schwierigen Situationen tun würde. Wegsehen. Es den Hund lösen lassen. Kontrolle abgeben. Und doch fühlte ich, dass genau das richtig für mich sein könnte. Schwer, aber richtig.

Viele Wochen übte ich auf kleinen Streckenabschnitten. Erst ganz einfache, gerade Wege. Dann mal eine Straßenüberquerung. Eine Treppe. Bis ich meinem Gefühl folgend beschloss, es für ein richtig langes Stück zu versuchen. Mit so vielen Lerneffekten.

„Wenn ich unsicher bin, mache ich die Augen zu.“

Ich stelle fest, dass Harry ein noch besserer, zuverlässigerer Führhund ist, wenn ich mich raushalte. Das geht nur mit geschlossenen Augen. Dennoch war diese intensive Vertrauensübung wirklich herausfordernd für mich. Sehr ungewohnt. Natürlich weiß ich, dass ein paar Prozent Sehrest einen immensen Unterschied machen. Aber etwas zu wissen und etwas selbst zu erfahren, zu erleben, ist etwas anderes.

Besonders interessant fand ich, dass ich Abstände gar nicht mehr richtig einschätzen konnte. „War diese Straße schon immer so lang“, ging es mir beispielsweise durch den Kopf, darauf wartend, dass wir links abbogen. Dafür leitete mich meine Nase ganz hervorragend, als wir uns meinem Lieblingsbäcker näherten. Bei jeder Straßenüberquerung fühlte ich ganz deutlich die Erhebung in der Mitte, die mir sonst sehrestelnd nie auffällt.

Richtig schwierig war es für mich, konsequent zu bleiben bei unerwarteten Umständen. Als ich zwei Frauen einige Meter vor mir plaudern hörte, flatterten die Augenlider heftig. Es kostete mich alles an Überwindung und sehr tiefe Atemzüge, sie geschlossen zu halten. Was, wenn Harry die beiden begrüßt, weil sie ihn auffordernd anschauen? Was, wenn ich in eine der Frauen hineinlaufe, weil Harry von irgendetwas abgelenkt ist? Doch ich ließ die Welt hinter dem dunklen Vorhang und wir passierten die beiden ereignislos. Mir fiel auf, dass sie verstummten, als ich auf ihrer Höhe war und hätte mir gewünscht, sie hätten weitergesprochen, damit ich sie weiterhin über die Ohren orten kann.

Kaum ein paar Meter weiter, zuckte ich heftig zusammen, als ein groß klingender Hund auf der anderen Straßenseite unerwartet losbellte. „Aus“, brüllte eine raue Frauenstimme. Was würde nun geschehen? Wie würde Harry reagieren? Die Lider zuckten gefährlich.

Doch mein Blindenführhund lief weiter, als würde er von alldem gar nichts mitbekommen. Als würde er mit seiner Reaktion sagen: „Frauchen, chill mal dein Leben.“

Also chillte ich mein Leben, bis wir an unserer Haustüre ankamen. Verschwitzt klebte das T-Shirt an meinem Rücken und als ich die Augen öffnete, rollten erstmal ein paar Tränen. Voller Erleichterung. Und Stolz. Und Dankbarkeit darüber, wie wunderbar mein Bärchen auf mich aufgepasst hatte. Wie sehr er mein Vertrauen verdient, auch wenn es mir schwerfällt, es zu schenken. Das ist mein Thema, nicht seine Schuld. Wiedermal hat er bewiesen, was er kann. Und ich, wie ich über mich hinauswachsen kann. Ich bin sehr stolz auf uns beide.

Und jetzt? Was bedeutet dieses Erlebnis für mich?

Natürlich werde ich nicht permanent mit geschlossenen Augen durch die Welt gehen. Ich habe einen Sehrest und ich werde ihn benutzen. Gleichzeitig möchte ich mich auch mehr mit meinen anderen Sinnen beschäftigen. Mit anderen Wegen der Wahrnehmung. Und noch viel mehr das Loslassen üben, Kontrolle abgeben. Ich weiß und spüre, dass mir das guttut. Und ich weiß und spüre auch, dass das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Kontrolle in mir steckt – auch wenn es eine Illusionen ist. Das ist in Ordnung. Das darf so sein. So bin ich eben. Immer dazwischen. Mein Weg heißt „Harmonisieren“.

Hast du Ähnliches erlebt? Hast du erwartet, dass es für mich ein so gewaltiger Unterschied ist, obwohl ich mit offenen Augen auch nur grob fünf Prozent sehe? Teile deine Gedanken gerne in den Kommentaren!

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