Ich dachte mein Leben lang, ich sei hochgradig sehbehindert. Das hatten mir fachkundige Ärzte in Augenkliniken schon früh so gesagt und ich hatte nie Anlass, daran zu zweifeln, schließlich kam die Information von ausgewiesenen Experten. Erst, als ich begann, um Hilfsmitteln zu bitten, stellte ich fest, dass da etwas nicht stimmte, dass es ungerecht zuging.

Obwohl ich in der Praxis fast blind bin, wurde das auf dem Papier nie berücksichtigt, meine Lichtempfindlichkeit völlig ignoriert, alle Beschwerden abgetan. Kein Merkzeichen Bl im Schwerbehindertenausweis in Sicht, mein Fragen nach Blindengeld und Führhund wurden belächelt. Überall hieß es, ich bewege mich zu sicher und sehe mit einem Visus von 0,05 – 0,08 zu gut. Erst ab zwei Prozent sei man gesetzlich blind.

Nur teilweise richtig

Das stimmt so nicht, die Wahrheit ist komplexer. Meine Wahrheit. Wie immer. Für meinen Geschmack viel zu spät recherchierte ich gründlich und ließ mich schließlich von rechtskundigen Anwälten aufklären: gesetzlich blind ist man

  • nicht nur bei einem Sehrest von 2 % (1/50),
  • sondern auch mit einem Gesichtsfeld von
  • ODER einem Sehrest von 5 % (1/25) UND einem Gesichtsfeld von 15°.

Eine ausführliche Definition von Blindheit und Sehbehinderung findest du hier.

So wurde ich über Nacht (gesetzlich) blind, ohne, dass sich mein Sehen veränderte.

Wie es soweit kommen konnte?

Weil es bei mir immer kompliziert zugeht, weil ich in einer Zwischenwelt lebe. Weil ich eine seltene Augenerkrankung habe und ein ungewöhnlicher Fall bin. Weil sich Ärzte oft weniger gut auskennen als sie meinen. Weil manche lieber Halbwissen verbreiten, als zuzugeben, dass sie es nicht wissen. Weil auch auf Webseiten der Blinden- und Sehbehindertenverbände nicht immer die volle Definition von Blindheit und Sehbehinderung steht, sondern nur ein Teil davon.

Weil immer argumentiert wird, ich orientiere und bewege mich viel zu sicher. Dass ich mir meine Umgebung sehr gut einprägen kann und extrem aufmerksam bin, zog niemand in Erwägung. Oder, dass ich mitdenke, kombiniere, mich durchbeiße… mit wachem Verstand, durch Technikeinsatz und Alltagstricks lässt sich der Mangel an Hilfsmitteln eine Zeit lang kompensieren… eine Zeit lang.

Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Ein Teil von mir möchte ausrasten, schreien und wüten, Dinge kaputtschlagen und heulen Fragt sich: Warum? Warum hat mir das keiner gesagt? Ein altes Vertrauen ist zerbrochen, ich fühle mich zutiefst verletzt. Unsicher. All diese langen Kämpfe, all diese unfairen Beurteilungen – Verurteilungen. Warum ich? Warum kann ich keine „normale“ Behinderung haben? Immer wieder Barrieren, gegen die ich pralle, an denen ich mir wehtue. Und immer fühle ich mich alleingelassen – von Ärzten, vom Staat, von Behörden und Vereinen. Meinen komischen Fall will keiner, begreift keiner. Warum kennt sich denn bloß niemand richtig aus? Warum hilft mir niemand? Warum sehen alle zu, wie ich ausbrenne? Ich bat um Hilfe und wurde andauernd zurückgewiesen, ignoriert, entmutigt.

DABEI HÄTTE MIR ALLES ZUGESTANDEN!

Tja, hätte hätte Fahrradkette

Ich will ganz ehrlich zu dir sein. Der größere Teil von mir begriff: ICH muss die Antwort auf all diese vielen Warums werden! Muss die werden, die sich auskennt, die weiß, die sich selbst hilft. ICH muss meine eigene Expertin werden, denn meine Sehbehinderung, mein Leben, mein ICH ist sehr individuell. Einhorn mit Sonnenbrille eben.

Ja, es ist ungerecht, ja es tut weh. Dieses neue unendlich wertvolle Wissen hätte mir viele Jahre Diskussionen mit Augenärzten um Rezepte erspart und ich hätte seit Langem Blindengeld bekommen können, anstatt alles selbst stemmen zu müssen. Aber jetzt, JETZT hat sich das verlorene Vertrauen neu ausgerichtet, jetzt vertraue ich in eigener Sache in erster Linie MIR selbst. JETZT weiß ich, dass ich gesetzlich blind bin. JETZT weiß ich, wie ich für mich eintreten, wie ich recherchieren und worauf ich mich verlassen kann.


Drei Tipps, wie man sein eigener Experte ist

Tipp 1

Wenn du dir Rat von anderen z.B. in Facebook- oder WhatsApp-Gruppen holst, sei vorsichtig mit den Informationen, die du bekommst. Jeder hat seine eigene Sicht und Geschichte. Nur wenig kommt ungefiltert bei dir an, also zieh dir Kraft aus diesen Kontakten, aber glaube nicht blind, sondern verifiziere, halte dich an die Fakten!

Praxisbeispiel: In einer Führhundgruppe sagte man mir, ohne das Merkzeichen Bl könne ich keinen Blindenführhund bekommen. Das ist rechtlich nicht korrekt.

Tipp 2

Informiere dich ausführlich über deine Rechte und zwar nicht nur per Selbstrecherche im Internet, sondern frage Fachanwälte! Für die Belange von Blinden und Sehbehinderten kann ich rbm – Rechte behinderter Menschen wärmstens empfehlen. Jeder Anruf dort hat mir Sicherheit gegeben und mich meinen Zielen nähergebracht.

Praxisbeispiel: Ich dachte mein Leben lang, ich sei hochgradig sehbehindert, bis man mir dort bestätigte, dass ich meinen Werten nach als gesetzlich blind gelte.

Tipp 3

Bereite dich ausführlich auf Arztbesuche oder Behördengänge vor, kenne deine Rechte und sorge dafür, dass dein Gegenüber sie auch kennt. Lass dich nicht verunsichern, trau dich zu widersprechen und nutze Argumente dafür, die du z.B. mit einem ausgedruckten Gesetzestext untermauern kannst.

Praxisbeispiel: Mein neuer Augenarzt gab zu, nicht beurteilen zu können, ob ich einen Führhund brauche oder nicht. Darum brachte ich ihm eine entsprechende Empfehlung zur Verordnung von einer Mobilitätstrainerin und erhielt das Rezept.


Ich habe aus all dem viel gelernt, ich lebte mal inkognito und mal als Exotin unter Sehenden. So ging der Teil der Wahrheit an mir vorüber, der so wichtig, so wertvoll gewesen wäre… aber frustriert bin ich deswegen nicht. Im Gegenteil: Ich bin durch eine beinharte Schule gegangen, bin daran gewachsen, habe alles geschafft. Nun bin ich definitiv klüger. Das ist auch ein kostbares Wissen, ein fettes Stück Selbstsicherheit, das mir niemand mehr nehmen kann.

Ist dir auch etwas Derartiges passiert? Hat neues Wissen einmal dein Leben verändert? Hinterlasse mir gerne deine Gedanken als Kommentar!


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5 Kommentare zu „(Gesetzlich) blind über Nacht

  1. Liebe Lizzy,
    ich finde es so großartig und bewunderswert – deinen Kampf! Traurig, dass man überhaupt so um sein Recht kämpfen muss!
    Soweit man das überhaupt sagen kann, freue ich mich für dich, aber wenn das viel, viel früher entschieden worden wäre, wäre vieles leichter für dich gewesen, auch finanzell. Es ist ja auch nicht einfach zu kämpfen wenn man kaum noch etwas lesen kann z.B., es einem so schwer fällt an Informationen zu kommen!
    Ich werde auch versuchen weiterzukämpfen, wenn es mir auch schon sehr, sehr schwer fällt.
    Ich wünsche dir, dass du ganz bald einen ganz lieben und treuen vierbeinigen Begleiter bekommst.
    Einen ganz lieben Gruß aus dem hohen Norden (HH). Petra

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  2. Vielen Dank, liebe Benita, für deine tolle Rückmeldung! Auch wenn jede Behinderung, jedes Krankheitsbild und jeder Mensch, der davon betroffen ist, sich unterscheiden, so teilen wir doch auch viel miteinander. Wir alle kennen wohl das Kämpfen, das Hoffen, das Verzweifeln und die Erleichterung, wenn wir die Medikamente, Hilfsmittel und Unterstützung bekommen, die wir brauchen… ich wünsche uns allen viel Kraft, Durchhaltevermögen und Erfolg am Ende!
    Herzliche Grüße
    Lizzi

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  3. Liebe Lizzy,
    Du hast das hervorragend beschrieben. Die eigene Expertin werden und jenen die Entscheidungen treffen müssen und sogenannten Fachexperten damit zur Seite stehen bzw. sie zur richtigen, d.h. hilfreichen Entscheidung führen. Das braucht es auch in unserem Fall einer Behinderung (DIS = dissoziative Identitätssymptomatik, eine ganz andere Thematik, aber dennoch eine Behinderung), die niemand kennt bzw. sich kaum jemand damit auskennt.
    Weiterhin viel Erfolg und Glück auf deinem Weg.
    Herzliche Grüße
    „Benita“

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