Das graue Grauen und ich mitten drin

Kürzlich habe ich einen Antrag für einen Pflegegrad gestellt. Im Zuge dessen wurde ich vom medizinischen Dienst begutachtet. Dabei musste ich eine Menge Fragen über mein Leben beantworten, die dann in ein Punktesystem eingetragen wurden. Für den ersten Pflegegrad braucht man 12,5 Punkte. Mein Ergebnis waren etwa 10 Punkte. Also kein Pflegegrad. Dadurch hätte ich etwas Pflegegeld oder Sachleistungen jeden Monat bekommen zum Beispiel für eine Haushaltshilfe oder eine Assistenz – der Bedarf dafür wäre groß. Das hätte eine riesige Erleichterung für mich bedeutet, aber naja, 10 ist nicht 12,5. Wiedermal nichts Halbes und nichts Ganzes.

10 ist auch nicht 0, oder?

Okay, ich verstehe, dass man irgendwo die Grenze ziehen muss. Leuchtet mir ein. Nur warum immer ausgerechnet vor meiner Nase? Und was ist dann mit mir? 10 Punkte bedeutet doch, dass da eindeutig Probleme sind, die mein Leben prägen. So gravierende, dass ich um Haaresbreite einen Pflegegrad bekommen hätte. 10 ist viel näher an 12,5 als an 0. Und doch gehe ich leer aus. Ich bin immer so nah dran und doch bekomme ich keine dringend benötigte Unterstützung. 10 Punkte kommen nicht von ungefähr. Es sind zehn eindeutige Hilferufe – ungehörte Hilferufe.

Das Gleiche in Anthrazit

Beim Augenarzt ist es genauso. Wenn ich dorthin gehe und um ein Hilfsmittel bitte, heißt es, man könne mir dies und jenes nicht verschreiben. Ich sehe mit acht Prozent auf dem linken und sechs Prozent auf dem rechten Auge viel zu viel. Diese ach so gewaltigen durchschnittlich sieben Prozent (von 100!!!) sind aber nur die Theorie, die im Labor festgestellte Wahrheit.

LEIDER nicht meine Wahrheit. Denn ich leide unter einer extremen Photophobie also Blendempfindlichkeit. So sehr, dass ich bei Tageslicht nie ohne Sonnenbrille vor die Türe kann, egal, wie das Wetter ist. Sonne, Regen, Schnee, ich bin unfreiwillig die Obercoole. Natürlich auch im Supermarkt und anderen hellen Gefilden (an dieser Stelle einen herzlichen Dank an die lieben Menschen, die mich immer voller Fürsorge daran erinnern, dass es draußen bereits dunkel ist oder dass die Sonne nicht scheint – was würde ich nur ohne sie tun?)

Lizzi Nahaufnahme mit Sonnenbrille

Die Sonnenbrille hilft, löst das Problem indes bei weitem nicht. Wenn es hell ist, bin ich phasenweise wie blind, nur ist der Zustand bei mir nicht permanent. Wenn die Sonne günstig steht und die Schatten gut fallen, kann ich mein volles Potential, immerhin stolze sieben Prozent Visus, nutzen und komme einigermaßen zurecht. Darum lerne ich relevante Wege im Dunkeln. Dann präge ich mir so viele Einzelheiten ein, dass ich tagsüber das ein oder andere wiedererkenne und mich so orientieren kann. Aber sobald das Licht dann ungünstig scheint, falle ich Treppen hinunter, pralle gegen Parkuhren, Straßenlaternen, Aufsteller vor Läden und bin vollkommen unsicher. Daher habe ich für solche Situationen einen Langstock im Gepäck. Selbstgekauft, weil ich laut ärztlicher Expertise so etwas nicht brauche. Woher kommen dann eigentlich die von Stürzen vernarbten Knie, wenn ich so gut sehe?

Kurz gesagt: ich sehe sieben Prozent auf dem Papier und null bis sieben Prozent in der Realität je nach Lichtverhältnissen.

Auf dem Papier zu viel, in echt zu wenig

Ich persönlich finde, man sollte Beurteilungen und Leistungen anhand meines minimalsten Potentials vornehmen und sich nicht an meiner maximal möglichen Sehleistung orientieren.

Warum werden bei mir keine Tests draußen gemacht, um festzustellen, wie mickrig wenig ich dort noch sehe? Warum immer nur drinnen, wo ich halbwegs klarkomme? Das Leben spielt sich ja nicht nur in meiner Wohnung ab. Aber meine beiden letzten Äußerungen beim Augenarzt in diese Richtung blieben irgendwie ungehört und unbeantwortet. Blendempfindlichkeit könne man nicht messen…? Das tut mir aber leid – da ist sie trotzdem.

Nicht, dass du mich falsch verstehst: ich bin dankbar, dass ich immerhin auf sieben Prozent komme. Könnte ich mich konstant auf diese verlassen, Tag und Nacht, drinnen und draußen, dann würde ich super zurechtkommen. Meine Freunde lachen, wenn ich sage, dass mir sieben Prozent völlig reichen würden. Es klingt einfach lächerlich im Gegensatz zu 100 Prozent, aber mir wäre es genug.

So ist es jedoch nicht, auch wenn ich so gehandhabt werde

Ich sehe manchmal sieben Prozent. Darum gehe ich an dunklen Winterabenden für mein Leben gerne raus. Dann brauche ich keine Angst vor Treppen und Masten zu haben, muss mich nicht im Genick verkrampfen und die Augen zusammenkneifen, um einigermaßen zu erkennen, wo ich bin und wo ich hingehe. Ich benötige keinen Blindenstock, kann anderen ausweichen und muss nicht bis aufs Äußerste vor Konzentration angespannt sein. Dann ist das Leben leichter… aber das sind nur Ausnahmen.

Sobald die hellen Zeiten kommen, plagen mich andauernd Kopfschmerzen, weil mein Nacken heftig verspannt ist. Kein Wunder, wenn man bei jedem Schritt hochelektrisiert ist, immer gefasst darauf, dass der Boden unter dem nächsten Schritt verschwindet oder man gegen etwas prallt. Immer bereit, in letzter Sekunde auszuweichen, wenn Kinder, Fahrräder oder unachtsame Menschen entgegenkommen. Immer gespannt wie eine Bogensehne, falls man schnell reagieren muss. Und mit gefurchter Stirn, weil man versucht, ein Ladenschild zu lesen, einen freien Platz in der Bahn zu finden, die Ampel zu erkennen oder welche Nummer auf dem Bus steht.

In den Sommermonaten kämpfe ich zusätzlich mit einem höheren Migränevorkommen. Wen wundert das? Bei mir ist vor allem Stress ein Trigger und was könnte stressiger sein, als seinen Alltag unter Extrembedingungen leben zu müssen? Mein Rücken freut sich über das viele Verspanntsein und das visuell bedingte gebeugt Sitzen auch nicht gerade… wie die Psyche unter all dem Druck leidet, kannst du dir vielleicht vorstellen.

Aber hey

Der medizinische Dienst empfiehlt für mich immerhin präventive Maßnahmen wie Stressbewältigungskurse, autogenes Training oder Yoga. Ich verrate mal ein kleines Geheimnis: Yoga mache ich bereits seit zwei Jahren. Ich liebe es. Es tut mir sooo gut! Hat aber irgendwie meine Lebenssituation auch nicht verändert. Hmmm, wozu sollte man Probleme lösen, wenn man auch Symptome bekämpfen kann? So ein Stressbewältigungs- und Entspannungskurs wäre allerdings vielleicht ganz gut für mich, da würde ich dann womöglich lernen, wie ich mit der Frustration über mein graues Dasein umgehen soll und wie ich nicht verzweifle über mein lebenslanges „Beinahe“.

Lizzi liegt im Sand - Gesicht nach unten

Sorry, aber ohne Ironie geht dieses Thema einfach nicht mehr. Jammern will ich aber wirklich nicht. Ich möchte doch nur Hilfe!

Irren zwischen Sehen und Nichtsehen

Und so wandle ich durch die Welt. Wenn ich Hilfe brauche, falle ich immer ganz knapp durchs Raster. Darum bekomme ich kaum Unterstützung von oben. Blindenführhund? Großes Gelächter bei Ärzten und Krankenkassen. Pflegegrad? Pech gehabt, komm alleine klar, Lizzi, mach doch Yoga. Immer dasselbe.

Dieses Alleingelassenwerden zehrt mich auf. Es frisst so viel Kraft, reißt Löcher in mein Nervenkostüm, schlägt Wunden in die Seele, aus denen meine Energie tropft, zerrt an meinen Reserven. Ich gebe mir größte Mühe, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Ich arbeite 40 Stunden in der Woche, zahle Steuern, spende für die Umwelt, kaufe Bio, vermeide Plastik, recycle, besuche Yogakurse und trainiere bei Bodystreet, ich unterstütze den Tourismus, helfe Freunden und liebe das Leben. Ich füge mich ein und leiste meinen Beitrag.

Aber… leistet die Gesellschaft eigentlich ihren Beitrag an mir? Außer Mobbing in der Schule, Ablehnungsbescheide und Exklusion habe ich nie viel bekommen. Das darf man aber nie laut sagen, sonst heißt es wieder, man sei undankbar. Also psssssssssssst! Immerhin darf ich ja im Nahverkehr kostenlos fahren und bekomme hier und da im Kino mal eine Begleitperson frei. Und auf Festivals darf ich auf die Rollirampe – gut, sehen kann ich die Bands trotzdem nicht bei der Entfernung, aber hey, bloß nicht frech werden, oder?

Das Leben in Grau ist schwer

Es fordert alles, was ich habe und ich weiß nicht, ob ich das auf Dauer ohne Hilfe schaffen kann. Noch geht es, weil ich ein Leuchtfeuer an Kraft und Willensstärke bin und einen schützenden Zynismus entwickelt habe. Und vor allem durch die liebevolle Fürsorge meiner Familie und treuer Freunde. Ohne sie wäre ich aufgeschmissen. Ich bin für diese wundervollen Menschen so dankbar, das kann ich kaum in Worte fassen.

Nur Stolz darf man natürlich nicht zu viel besitzen, sonst würde man sich dauernd entwürdigt fühlen. Ich weiß, wie gerne und bereitwillig meine Lieben mir zur Seite stehen. Gleichzeitig wünsche ich mir, ich wäre nicht immer eine Last. So würden sie mich NIE nennen, NIE sehen und würden es hassen, das hier zu lesen, aber ich fühle mich so. Ich würde so gerne selbstständiger sein können, weil ich lieber andere unterstützen möchte, als selbst immer die Hilfsbedürftige zu sein. Was ich dafür brauchen würde, bekomme ich nicht. Es kostet zu viel und an Finanziellem bin ich nun wirklich nicht reich. Es tut weh zu wissen, dass es Wege geben würde (durch Assistenzen, durch Blindenführhund, durch bestimmte Hilfsmittel), die mir Selbstständigkeit ermöglichen könnten und mich würdevoll leben lassen würden. Stattdessen sind sie für mich unerreichbar. Und meine wunderbaren Helfer kann ich auch nicht entlasten.

Angst vor dem Ausbrennen

Ich kann problemlos akzeptieren, dass ich nie besser werde sehen können. Damit komme ich klar. Ich kann aber nicht akzeptieren, dass es Hilfsmittel und Wege gibt, die mir helfen würden, ich sie aber nicht bekomme, weil ich ein zwei Prozent auf dem Papier zu gut sehe und ein zwei Punkte von pflegebedürftig entfernt bin.

Ich fürchte mich vor der Zukunft, denn ich weiß wirklich nicht, wie lange ich diesen exorbitanten Energieverbrauch noch aufrechterhalten kann. Ich kämpfe wirklich jeden Tag und gebe nie auf. Ich bin Optimistin und versuche, aus allem das Beste zu machen. Ich schürfe und suche und buddle, um Wege zu finden, ich winde und biege und zwänge mich durch Nadelöhre, um zu praktikablen Lösungen zu kommen. Ich gebe alles und werde weiterhin alles geben – versprochen! Und vielleicht übertreffe ich mich selbst und die Energiequelle versiegt nie und ich ende nicht mit Handicap Burnout.

Lizzi steht am Seeufer

Ein kleiner Teil von mir ist es aber bereits jetzt schon leid. Der wünscht sich verzweifelt Entlastung, mehr Leichtigkeit und Unbeschwertheit, mehr Lebensqualität, mehr Würde. Denn er weiß ja, dass das Kämpfen nicht sein müsste… aber das liegt nicht in meiner Hand. Sondern in Punktesystemen, Bewertungsskalen, Tabellen und Abgrenzungen, die mich immer knapp ausschließen.

Was weiß ich schon? Das wird schon seine Richtigkeit haben. Ich brauche ja keinen Blindenführhund, ich brauche ja keinen Pflegegrad, ich brauche ja kein Mobilitätstraining. Nein, nein – ich schaffe das schon irgendwie… schließlich komme ich ja nur auf 10 von 12,5 Punkte und auf sieben statt unter fünf Prozent im Labor. Das ist wohl mehr als ausreichend… also Schluss mit dem Gejammer, Lizzi!

Wie ist das bei dir? Wandelst du auch im grausigen Grau oder bist du eindeutig schwarz oder weiß? Hast du auch schon einmal unter dem grauen Grauen gelitten? Verrate es mir in den Kommentaren oder schreib mir eine Nachricht.


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15 Kommentare zu „Das graue Grauen – mein Leben mit Handicap #1

  1. Ich sage dazu, dass man mit Behörden schön zu kämpfen hat.
    Kenne ich viel zu gut, leider….

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  2. Liebe Susanne,

    DANKESCHÖN für deine positive Nachricht und deine gute Idee! Das werde ich versuchen…

    Ganz liebe Grüße
    Lizzi

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  3. Hallo lunis,

    danke dir fürs Lesen und vor allem für deine Worte! Schön, so ein tolles Feedback zu bekommen!

    Du hast sowas von recht! Ich werde auch hartnäckig sein und bleiben 🙂 Keine Sorge. Das mit dem Filter sehe ich auch so. Ich selbst habe für mich gelernt, mit vielen Dingen umzugehen und kreative Lösungen dafür zu finden. Vielleicht lasse ich nächstes Mal meine hart erkämpfte und teuer praktikable Selbstständigkeit einfach weg und bin – sagen wir mal – grundbehindert.

    Ich habe mal einen Anbieter kontaktiert, der bei der Vermittlung und Verwaltung des Persönlichen Budgets unterstütz. Dort hieß es, ich würde kaum etwas bekommen. Seither hatte ich noch keine Zeit, mich weiter damit auseinander zu setzen, weil man da schon das ein oder andere recherchieren muss. Aber sobald mal wieder etwas Raum am Wochenende ist, werde ich mich auch darin wieder einlesen… danke für den Tipp!

    Herzliche Grüße und eine gute Zeit
    Lizzi

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  4. Liebe Anne,

    danke für deine Worte! Die tun mir so gut und freuen mich zutiefst. Außer der Teil, in dem du schreibst, dass du auch keine Unterstützung bekommst. Ich wünsche dir auch ganz viel Kraft und gute Energie, um alles zu meistern!
    Ich frage mich, ob es Länder gibt, die da wesentlich fortschrittlicher sind als Deutschland oder die Niederlande… auswandern wäre jetzt zwar auch keine Option für mich, aber neugierig wäre ich schon…

    Herzliche Grüße
    Lizzi

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  5. Liebe Stephanie,

    im Prinzip bist du so etwas wie mein Gegenpart. Die Schwierigkeiten, die du im Dunkeln hast, habe ich im Hellen. Von dem her finde ich das schon vergleichbar.
    Ich muss dir sagen – toll, wie du das siehst und aus meiner Sicht hast du zu 100 % recht. Ich höre auch sehr gut und noch ganz andere Sinne von mir sind extrem ausgeprägt. Vor allem meine emotionale Wahrnehmung und auf den Kopf gefallen bin ich auch nicht, sagt man mir zumindest nach. Ich habe ganz viel Plus und komme im Großen und Ganzen mit meinem Minus gut zurecht 🙂 Du hast mich auch über einen Blogbeitrag kennengelernt, der eine Seite von mir zeigt, die ich selten herauslasse – aber ich finde, auch die Enttäuschung, die man so oft als Mensch mit Behinderung erlebt, darf man mal zeigen und rauslassen. Nur, weil man gut kompensieren kann und sein Leben im Griff hat, finde ich es durchaus berechtigt trotzdem oder gerade deswegen zuzugeben, dass es kein Zuckerschlecken ist und welche Hürden man zu meistern hat.

    Danke dir auf jeden Fall für deinen positiven Kommentar und das Lesen ❤

    Herzliche Grüße
    Lizzi

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  6. Wie so oft im Leben: Man hat verdammtes Recht, aber es nützt nichts. Vielleicht ist das eine wichtige Lektion, die eben nicht zu Lethargie aufruft, sondern klar macht: Wenn nicht ich, dann niemand. Es ist richtig, Dinge für sich einzufordern. Aber es ist noch wichtiger, eigene Strategien zu fahren. Ich bin – und das ist natürlich nur ein Bruchteil von dem, was Du alles nicht sehen kannst – Nachtblind. Im Dunkeln tappe ich tatsächlich nur rum, Licht blendet mich dann so stark, dass ich gar nichts mehr sehe. In der Sonne helfen nur stärkste Sonnenbrillen und auch die wenig. Ich habe meinen Führerschein im Sommer gemacht, um nicht in die Verlegenheit einer Nachtfahrt zu kommen. Auf dem Fahrrad gibt es oft brenzlige Situationen. Mit mir nachts im Auto zu fahren, ist gefährlich (ich mache das nur mit einem verlässlichen Menschen als Beifahrer/in – alle, die mitfahren, wissen um mein Handikap, ich fahre auch wirklich nur, wenn es nicht anders geht). Natürlich habe ich im Gegensatz zu Dir nur Probleme, wenn es dunkel ist und ich draußen bin. Wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass ich ziemlich gut hören kann. Und hier liegt ein wichtiger Punkt: Nicht auf das Manko konzentrieren, sondern auf die Stärke. So vermeidet man möglicherweise das Ausbrennen. Denn wo ein Minus ist, ist auf der Gegenseite ein Plus. Das wird bei Dir möglicherweise anders verteilt sein. Aber Du hast sicher mehr als ein Plus auf dem „Lebenskonto“. Oder – !?

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