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Das vertraute Rauschen der Brandung begrüßte Will an jenem Morgen wie an jedem Tag zuvor seit über fünf Jahren. Der stetige Wind, der ihm eine salzige Umarmung entgegenhauchte, hatte den weichen Sand mit sanften Wellen gezeichnet. In der Ferne sah er die zackigen Umrisse der schwarzen Felsen, die weit ins offene Meer hinausragten, das sich vor ihm bis in die Unendlichkeit der endenden Nacht erstreckte.

Noch bevor der neue Tag anbrach, lenkte er seine Schritte zum Strand, um ungestört mit offenem Geist eine Weile zu trainieren, seinen Körper zu stählen, die Gedanken fliegen zu lassen und für sich zu sein. Die Landschaft war ihm zutiefst vertraut und doch verlor sie nie ihre Zaubermacht über ihn, denn die unfassbare Weite, die Frische und die Lebendigkeit, die jedem Sandkorn, jedem Windstoß, jeder Woge und jedem Stein innewohnte, durchdrang ihn wie bei seinem ersten Besuch. Das Leben fühlte sich hier intensiver, realer und so viel klarer an als an jedem anderen Ort der Welt.

Will zog den Kragen seines Mantels höher und strich sich die unbändigen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die gleich darauf neckisch zurückfielen. Er atmete tief durch und schritt dem kühlen Nass entgegen. Der knirschende Sand unter seinen Füßen trug ihn weichend und doch sicher bis zu dem schmalen, festen Streifen, der dunkel und glänzend von würziger Feuchtigkeit kündete. Dort blieb er stehen und fand mit wachen Augen die Stelle am Horizont, wo in wenigen Minuten die Sonne ihr wärmendes Antlitz über den Rand der Welt schieben würde. Heute mehr als sonst sehnte er sich nach ihrer Wärme, ihrem Licht und ihrer Energie. Die vergangene Woche war furchtbar gewesen, sorgenvoll, grüblerisch und düster. Auch wenn ein Sonnenaufgang diesen Umstand nicht ändern konnte, auch wenn das Licht die Probleme nicht löste, so sehnte sich Will dennoch nach dieser unerschöpflichen Quelle am Firmament, die Zuversicht und Hoffnung versprach und ein überschattetes Herz trösten konnte.

Wieder sog er die kühle Morgenluft ein und gab den Kampf mit seinen Haaren auf, er ließ sie frei um seine Schultern wehen, schmeckte das unvergleichliche Meeresaroma auf den Lippen und erwartete gen Osten schauend das freundliche Sternengesicht.

Ein hauchdünner Schimmer feurigen Glanzes kündigte die Königin der Gestirne an und breitete sein rotes Leuchten vor ihr aus. Ganz allmählich schob sich die brennende Scheibe über den schwarzen Rand des Meeres und der allererste Strahl des Tages tanzte funkelnd über die Wasseroberfläche, erfasste Will und hüllte ihn ein. Endlich!

Genüsslich beobachtete er, wie weitere Strahlen der Lichtspur folgten, langsam den Nachthimmel heller tönten und bunter färbten. Wie oft hatte er diesen Anblick schon bewundern dürfen? Und doch hatte er nichts an Faszination verloren. Jedes Wiederkehren war gleich und doch so unbegreiflich packend, dass Will wusste, er würde sein Leben lang diese Schönheit erblicken können und würde jedes Mal darüber staunen.

Aber irgendetwas war an diesem Morgen doch anders. Es war ein winziges Ziehen im hintersten Winkel seines Bewusstseins, das ihn darauf aufmerksam machte. Eine kaum erkennbare Auffälligkeit, die von den unzähligen anderen Sonnenaufgängen abwich, die er kannte. Etwas bewegte sich inmitten der glitzernden Lichtstraße, die von der Sonne übers Meer bis zu ihm führte. Ganz an ihrem Anfang, wo sie gerade das Wasser berührte, kräuselte sich eine Stelle.

Will kniff die Augen fester zusammen, schirmte sie mit der Hand ab und fokussierte seine Aufmerksamkeit auf diesen ungewöhnlichen Punkt. Die Wasseroberfläche war dort nicht glatt und ruhig, sondern aufgewühlt – und was beim ersten Betrachten wie ein Punkt ausgesehen hatte, entfaltete sich schnell zu einer Bewegung. Erst war sie kaum wahrnehmbar, doch mit jeder Sekunde wurde sie schneller, breiter und länger.

Was konnte das sein? Der Wind war es gewiss nicht… ein Meerestier? Es müsste riesig sein… so etwas gab es hier nicht. Oder?

Eine schwere Unruhe legte sich auf Wills Gemüt, er ließ den Aufruhr auf hoher See nicht aus den Augen. Seine Schultern spannten sich an, sein Atem ging schneller. Der bewegte Streifen glitt unaufhaltsam auf der Lichtspur dahin, geradewegs aufs Ufer zu.  Immer schneller, immer größter, immer breiter. Das Wasser blubberte, brodelte, sprudelte und dann brach geräuschlos etwas aus den Tiefen hervor, verdrängte die Wassermassen und bahnte sich seinen Weg an die Luft. Etwas Gewaltiges verließ das Meer, ein gigantischer Schatten vor der Sonne schoss in die Höhe, löste sich sprühend und spritzend von seiner nassen Herberge und stieg in die Luft. Flügel von riesiger Spannweite breiteten sich aus und schleuderten glitzernde Tropfen wie tanzenden Nebel in die Lüfte. Die Sonne erfasste die glühende Wolke, malte schimmernden Glanz auf die nachtblaue Haut des Wesens und versetzte es in einen wirbelnden Tanz von Feuer und Wasser.

Will stockte der Atem, als er den funkelnden Drachen auf sich zuschießen sah. Feine Tröpfchen und glimmende Fünkchen wirbelten um ihn, die mächtigen Schwingen peitschten die Lüfte und der immense Körper verdeckte den Kern der Sonne, während Strahlen wie flüssiges Feuer um ihn schossen.

Der junge Mann war vor Angst wie gelähmt, unfähig, sich zu bewegen oder seinen Blick zu lösen… starr und staunend. Und doch war dieser Anblick so viel mehr als nur ein Bild des Schreckens. Die Intensität dieses Moments überfiel Will wie eine eisige Böe, zog eine prickelnde Gänsehaut über Arme und Rücken, versank tief in ihm und legte sich um sein Herz. Die Szene war überirdisch und die nicht in Worte zu fassende Schönheit eines so gewaltigen Geschöpfes eingehüllt in einen alles überstrahlenden Feuerball, umschwirrt von perlendem Glanz brannte in Will, sie steckte sein Herz in Flammen und ohne, dass er es hätte verhindern können, rannen ihm heiße Tränen über die Wangen, unfähig, seinem Empfinden wirklich Ausdruck zu verleihen, nicht im Stande, seinen inneren Brandt zu löschen. Seine Beine gaben unter ihm nach, er sank auf die Knie, den klebrigfeuchten Sand nicht spürend, der nach ihm griff und ertrank in dem alles umfangenden Schmerz, den diese unaussprechliche Eleganz, diese Fülle an Lebendigkeit bewirkte. Da war nichts mehr in ihm, außer diesem Bild, das sich für alle Zeit in sein Gedächtnis grub und in sein Herz tätowierte. Und inmitten dieses Infernos, inmitten dieser Naturgewalt, begriff Will, dass das Intensivste, was er fühlte, Liebe war.

Der majestätische nachtblaue Drache gekrönt von Sonnenfeuer schien für einige Augenblicke getaucht in gleisendes Licht bewegungslos zu schweben, bevor er langsam sein zähneblitzendes Maul aufriss und mit einem alles erschütternden, durch Mark und Bein gehenden Brüllen sein Erscheinen verkündete.


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