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Auch ein Weg von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt

Ich oute mich jetzt mal als Wanderfreundin – ja, richtig. Ich bin noch keine 30 und liebe das Wandern, das Unterwegssein, das In-Bewegung-Sein! Wenn man mich nach meinen Hobbys fragt, stehen lange Spaziergänge ganz oben auf der Liste! Wann für mich der Spaziergang zu einer Wanderung wird? So nach zweieinhalb Stunden etwa… ihr seht, ich bin ein Per-Pedes-Junkie! Dumm ist nur, dass ich keine Freunde oder Bekannten habe, die meine Leidenschaft teilen, denn als hochgradig Sehbehinderte – oder wie ich mich derzeit öfter bezeichne, als „Tagblinde“ – ist das Alleine-Wandern leider nicht praktikabel. Im normalen Tageslicht sehe ich keine Wurzeln, keine Schilder, keine tiefhängenden Äste, keine Stufen, keine Gesichter… nur ein Licht- und Farbenspiel mit Interpretationspotential. Nicht unbedingt die ideale Voraussetzung für eine schöne, lange Tour! Warum ich im Dunkeln, wo die visuellen Gegebenheiten kein großes Problem darstellen, nicht losziehe, ist wohl klar. Ihr seht, ein Dilemma!

Über einen Wanderverein hatte ich schon nachgedacht, aber aufgrund meiner schlechten Erfahrungen aus meiner Schulzeit zum Thema Inklusion war ich mir nicht sicher, ob ich schon bereit wäre, als Gehandicapte einen erneuten Versuch als „Sonderling“ zu wagen. Die Wandertouren meiner Blinden- und Sehbehindertengruppe dagegen sind das komplette Gegenteil und extrem auf Menschen mit Behinderung genormt – klingt erstmal toll (- ist es auch-), aber mir persönlich fehlt dabei etwas die Herausforderung, denn die Touren sind relativ kurz (für meinen Geschmack) und die Unternehmung selbst ist mir zu isoliert, zu fern von der Realität, zu speziell behindertenfreundlich. Ich meine das auf gar keinen Fall abwertend, aber beide Varianten schienen mir noch nicht das zu sein, was ich wirklich will! Tja, und jetzt?

Was tut man also, wenn man die Sehnsucht in sich brennen fühlt, wenn das Herz vor Fernweh in Flammen steht, wenn man sich etwas so sehr wünscht, dass es wehtut, wenn man es nicht hat?

Diese Frage habe ich wortlos dem Universum gestellt und es hat mir zurückgemailt! „Wander-Pilger-Tour 2018“ stand im Betreff der Nachricht, die ich über den Blinden- und Sehbehindertenverband Württemberg erhalten habe. Das neugegründete Bewegungszentrum Pfulb stellte sich kurz vor und lud zu einem bunten Jahresprogramm für behinderte und nicht behinderte Menschen ein, die Lust an Wandern, Radfahren und ähnlichem haben. Voilà, da hatte ich genau das Richtige vor der Nase, eine gemischte Truppe von maximal zehn Personen, die dasselbe wollten wie ich. Kein Sonderling, keine Spezialveranstaltung, nur ein paar Menschen zu Fuß auf dem Schwabenweg von Konstanz nach Einsiedeln. Und auch wenn ich nicht unbedingt jemand bin, der überall Zeichen sehen muss, so war das Einleitungszitat „Nur, wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“ von (meinem!) Goethe doch der letzte Wink, auf dessen Aufforderung hin ich mich direkt anmeldete, um an der fünftägigen Rucksackreise teilzunehmen.

Auf die Plätze… fertig… LOS!

Die Monate verstrichen, das Vorhaben blieb surreal und doch war es plötzlich da! Ich brach mit gepacktem Rucksack zum Stuttgarter Hauptbahnhof auf, um mich mit den nun final sechs anderen Teilnehmern zu treffen, die ich zuvor noch nie getroffen hatte. Ich irrte ein bisschen zwischen Vorfreude und Verwirrung herum, denn natürlich hatte ich keine Ahnung, ob ich hundert Kilometer in fünf Tagen mit einem „schweren“ Rucksack laufen konnte, ob ich alles dabei hatte, ob das mit der benötigten Hilfe an den richtigen Stellen klappen würde… es ist immerhin auch kein Leichtes, sich selbst (gezwungenermaßen) völlig Fremden anzuvertrauen, mit ihnen das Land zu verlassen und über Pässe, durch wurzelige Wälder und seenüberspannende Brücken zu laufen. Nachdem ich also zwischenzeitlich das ein oder andere Mal an meinem gesunden Menschenverstand gezweifelt und mich anschließend wieder selbst aufgebaut und zurechtgewiesen hatte, ging es los und kaum waren wir alle versammelt, saßen im Zug und unterhielten uns, da fiel alle Anspannung von mir ab, blieb einfach in Stuttgart an Gleis 7 zurück und ich war frei – frei für die nächsten fünf Tage und Nächte, so frei, wie ich in meinem Leben noch nie gewesen bin!

Schweizer Blümchenwiese

Tag 1 – von Konstanz nach Märstetten

29.822 Schritte, 21,4 km und 5:06 Stunden Gehzeit

Wir stiegen aus dem Zug, holten uns in der Konstanzer Altstadt unseren ersten Pilgerstempel und liefen direkt los. Erst an Fachwerkhäusern vorbei, durch urbane Gegenden und dann war da plötzlich Grün um uns!

Über das Pilgern selbst wusste ich so gut wie gar nichts, mir ging es nicht um eine religiöse Reise, sondern um den Kontakt zur Natur, das Erleben durchs Laufen, die Wahrnehmung der Welt, den Dialog zwischen mir und meiner Umgebung… Dennoch gefiel mir das Konzept der Stempel, die man sich in kleinen Kapellen, in Kirchen, in Pilgerherbergen und Pensionen überall auf dem Schweizer Jakobsweg holen kann, um sie in seinem Pilgerpass zu verewigen. Es gibt zahllose unterschiedliche Motive mit und ohne Buchstaben, mal mit Muschel, mal mit Wappen… jeder Stempel hinterlässt seinen Abdruck auf dem weißen Papier wie das Erlebte seinen Eindruck in unser Bewusstsein prägt.

Wir übernachteten auf dem urtümlichen, sehr sympathischen Erlebnishof Brenner mit sauberen Wohnräumen, gemütlichen Betten und einer besonders für Stadtmenschen spannenden Tiergeräuschkulisse.  Vom liebevoll angerichteten, geschmacksnervenverwöhnenden Frühstück kann ich nur schwärmen!

Brenners ErlebnishofWir waren vom Wetter mehr als verwöhnt worden und die Wärme des Tages machte die abendliche Dusche umso mehr zu einer Belohnung und die Vorfreude auf das üppige Menü im Anschluss war geradezu funkensprühend. Wir alle bekamen einen ersten Eindruck der Prioritätensubstitution… wenn man nichts als sich und seine Ausrüstung bei sich trägt, werden die üblichen Überlegungen plötzlich auf eine ganz simple Natürlichkeit herunterreduziert und die Blendung des Alltags klingt ab. Was läuft im TV? Was ziehe ich morgen an? Soll ich bei Amazon oder Ebay bestellen? Wie viele Likes hatte mein letzter Beitrag? Unwichtig, denn du willst nur wissen, wo du heute Nacht schläfst, willst wohlverdient essen ohne Kalorien zu zählen, weil du weißt, dass du dir jeden Bissen verdient hast und du freust dich über die sonst so geradezu lächerlich nebensächliche heiße Dusche, die dich von den Anstrengungen des Tages befreit. Wie einfach das Leben doch sein kann!

atemberaubender Sonnenuntergang

Highlights: Wandern ist schön! – sich vor aller Augen umziehen stört mich nicht die Bohne – Juhu, ich kann meinen Rucksack tragen! – Lasten fallen ab – das Wetter rockt – ich habe noch nie so einen tiefroten Sonnenuntergang gesehen! – meine Wandergruppe ist superlieb! – das Abendessen war phänomenal und ich habe mich in die ahornblattförmigen Untersetzer verliebt! – meine Wärmepflaster finden Verwendung – der Hirschtalg hilft – keine Blasen!

Tag 2 – von Märstetten nach Fischingen

41.595 Schritte, 29,1 km und 6:56 Stunden Gehzeit

Vor diesem zweiten Wandertag hatte ich schon im Vorhinein den größten Respekt. Ich fragte mich des Öfteren, ob ich je in meinem Leben 30 Kilometer gelaufen war und durchforstete fieberhaft meine Schrittzähler-App, aber ich fand nichts Vergleichbares. Ich bin zwar nicht unsportlich und auch relativ ausdauernd, wenn es um das Spazierengehen geht, aber das war nun doch etwas ganz anderes… und trotz dieser vorsichtigen Überlegungen war da noch ein anderes Gefühl, etwas tief in mir, das im Alltag meistens weggesperrt ist… dieser Drang, sich selbst zu beweisen, eine Herausforderung anzunehmen und sich ihr zu stellen… wenn es um andere geht, habe ich äußerst selten so etwas wie einen Konkurrenzgedanken. Ich will mich mit niemandem vergleichen, denn niemand ist wie ich… mit mir selbst sieht es ganz anders aus! Das, was ich denke zu sein, ist meine Grenze und jedes Mal, wenn ich über mich hinauswachse, wenn ich weiter gehe, wenn ich die mich umgebende Barriere sprenge, werde ich größer, lerne ich mehr, überwinde ich geistige, emotionale und körperliche Einzäunungen und finde heraus, wie weit ich reiche… mein Äußerstes zu geben, hilft mir zu verstehen wo ich anfange und wo ich aufhöre. Nur, indem ich meine Komfortzone hinter mir lasse, indem ich offen für die Welt und ihre Impulse bin und indem ich mich ständig selbst herausfordere, weiß ich, wer ich bin. Außerdem gehört zu mir ein unbeugsamer Wille – er ist nicht impulsiv, nicht stürmisch und nicht wie die Gezeiten. Es ist eine Gewissheit, die mir trotz aller Zweifel die innere Ruhe gab, diese Mammutetappe anzutreten, denn mein tiefster Kern wusste, dass ich nicht stehen bleiben würde, bis das Ziel erreicht war. Keine Umwege, keine Abkürzungen, kein Aufgeben… nur der Weg und immer der nächste Schritt, der mich seinem Ende zutrug…

Wander-Lizzi in schöner LandschaftAm 19. Mai 2018 bin ich gewachsen, wurde so groß, wie ich noch nie zuvor gewesen bin. Der Körper meldete Anstrengung, die Seele saugte wie ein Schwamm die zauberhaften Bilder des Weges auf und doch fühlte ich am Abend, dass ich noch weiter hätte gehen können, dass da noch mehr Kraft und Energie gewesen wäre und beim Einschlafen im Gasthaus Sternen lag ein stilles, wissendes und stolzes Lächeln auf meinem Gesicht und ein Gefühl unbändiger Stärke verhüllte vorhanggleich meinen tiefen Schlaf, der von einem Hauch Unbesiegbarkeit umspielt wurde.

IMG_9234zaubernde kleine Kapelle auf einem Hügel

Highlights: Wie schön, mit Gleichgesinnten unterwegs zu sein – die Wege sind teilweise so überschaubar, dass ich auch alleine laufen kann – die Kuhglockenklänge verzaubern mich – wie kann Luft so frisch sein? – Natur und Digitalisierung begegnen sich… – keine Blasen!

Tag 3 – von Fischingen übers Hörnli nach Gibswil

29.481 Schritte, 18 km und 5:25 Stunden Gehzeit

Der Superman-Effekt scheint ein längerfristiges Wirken zu haben, denn für die restliche Reise war ich mir sicher, dass ich jede Herausforderung meistern würde. Auch wenn die Tagesform immer unterschiedlich ist und man nie weiß, was einen erwartet, so konnte ich den Gedanken „Du bist 30 km gelaufen, du schaffst alles“ doch nicht ganz verbannen. Warum auch? Wenn sich Superman immer so fühlt, ist es kein Wunder, dass seine Brust geschwollen ist 😉

Wander-Lizzi zwischen aufgeschichtetem Holz

Jetzt aber Spaß in den Rucksack packen, Wanderschuhe an, Mütze auf und ab geht’s! 30 Kilometer zu laufen ist schön und gut, aber nicht vergleichbar mit der Anstrengung, der man sich zu stellen hat, wenn es an das Überwinden von Höhenmetern geht. Das Hörnli forderte uns mit seinem waldigen Wurzelwerk und fiesen ausfallschrittgleichen Stufen vehement heraus und knöpfte uns den Zoll für eine wahrlich erstaunliche Aussicht ab. Etwas verhangen zwar, doch nichts desto trotz ergreifend, erstreckte sich die weite Landschaft vor uns und versetzte den offenen Betrachter ins ehrfürchtige Frösteln der Ferne. Distanz zu gewinnen hilft ebenso, die Dinge klar zu sehen, wie näher heranzugehen.

Blick vom Hörnli

„Ich gehe gerne Spazieren, um mit mir selbst zu sprechen. Und wenn ich mir gerade nichts zu sagen habe, höre ich der Welt zu.“

Die Bank auf dem Berg

In Gibswil logierten wir in einer ausgesprochen komfortablen Unterkunft mit Balkon am geräumigen Zimmer und einem Bad, das größer als mein heimisches ist! Es gab kostenlose Seifen, Duschgels und sogar einen Fön!

Balkon in GibswilWenn man mehrere Tage aus dem Rucksack lebt, lernt man, sich über so etwas zu freuen. Beim Packen hatte ich mir viele Gedanken gemacht, was ich mitnehmen und was ich lieber zu Hause lassen sollte. Am Ende sind es nur die nötigsten Dinge geworden und mein Rucksack war mit guten vier Kilogramm relativ klein und leicht, wie ich im späteren Vergleich mit meinen Wegbegleitern feststellte. Lustigerweise löste die Präsenz dieser riesigen, vollgebeugten Gepäckstücke der anderen das unangenehme Nagen des Etwas-vergessen-haben-Könnens in mir aus, während die anderen wiederum rätselten, wieso sie nur so viel Unnötiges mitgenommen hatten…

the simple life

Ich war als mittlerweile langjähriger Minimalist sehr gespannt darauf, ob meine mitgebrachten Kleidungsstücke und Utensilien ausreichen würden oder ob ich mich völlig verschätzt hätte.

  • 5x Unterwäsche
  • 1x Sport-BH
  • 2x Wandersocken
  • 1x Wanderschuhe
  • 1x Regenjacke
  • 1x Regenponcho
  • 1x Schildmütze
  • 1x Jeans
  • 1x ¾ Shirt
  • 2x T-Shirt
  • 1x kurzer Pyjama
  • Zahnbürste und Zahnpasta (Reisegröße)
  • Deo (Reisegröße)
  • Shampoo/Spülung (Reisegröße)
  • Handtuch
  • Flipflops
  • Wärmepflaster
  • Blasenpflaster
  • Sonnencreme (Reisegröße)
  • Hirschtalgcreme (Reisegröße)
  • Medikamente und Schmerztabletten
  • Geldbeutel (mit Schweizer Franken)
  • iPhone (mit Ladekabel)
  • Powerbank
  • Zwei Trinkflaschen
  • Kleine Snacks
  • Ein Teil des Gruppenproviants

Tatsächlich stellte ich am letzten Tag fest, dass ich lediglich eine Hose mehr hätte einpacken können, wobei meine Jeans problemlos bis zum Knie hochgekrempelt und so gekürzt werden konnte. Natürlich weiß ich nicht, wie es gekommen wäre, wenn wir tagelang in strömendem Regen unterwegs gewesen wären, aber meine kurze Packliste bereue ich absolut nicht. Für das nächste Mal steht lediglich eine Zip-Hose auf der „Ergänzungsliste“ und eventuell ein Schweißband sowie Waschmittel.

Jedes Mal, wenn sich die Möglichkeit ergab, wusch ich meine Sachen und hängte sie über Nacht zum Trocknen auf. So reichten mir natürlich meine zwei Paare Wandersocken. Wenn es keinen Fön gab, befestigte ich nicht ganz getrocknete Kleidungsstücke einfach an meinen Rucksack, wo die restliche Feuchtigkeit im Gehen schnell verflog. Wärmepflaster, Medikamente und Powerbank brauchte ich selbst nicht, konnte aber meinen Gefährten damit einen Gefallen tun, weshalb ich sie ganz und gar nicht als unnötige Last empfunden habe. Das ist auch schön, wenn man sich gegenseitig mit Kleinigkeiten helfen kann! Jemandem eine Schmerzlinderung verschaffen oder für einen vollen Handykamera-Akku sorgen, das ist das Schöne an Teams! Man hilft einander, man ist füreinander da! Das ist mir persönlich besonders wichtig, denn da ich durch meine Behinderung in besonderem Maße auf qualifizierte Unterstützung angewiesen bin, liegt es mir sehr am Herzen, in den Bereichen, in denen es mir möglich ist, anderen zu helfen. Ich möchte etwas zurückgeben – nicht, weil ich es muss, sondern, weil ich es will! Ich weiß, dass weder meine Familie, noch meine Freunde, noch meine Schwabenweggefährten etwas von mir erwarten – sie alle helfen mir gerne, bereitwillig und bedingungslos. Ein weiterer Grund, weshalb sie meine allergrößte Sympathie und Wertschätzung haben.

Herausforderung angenommen

Was ich im Sinne des Teamgeistes übrigens auch als sehr schön empfunden habe: Auch wenn wir sieben Pilger, die wir gemeinsam aufbrachen, gesundheitsbedingt nicht alle Touren zusammen laufen konnten, so war es doch immer toll, abends wieder zusammenzusitzen, von den Geschehnissen des Tages zu berichten und morgens gemeinsam den neuen Tag zu begrüßen! Niemand wurde ausgeschlossen, keiner blieb zurück und für einige Sonnenauf- und Sonnenuntergänge wuchsen sieben unterschiedliche Menschen aus unterschiedlichen Situationen und Lebensumständen unter dem Stern des Pilgerns zusammen und fanden, was sie alle vereinte.

Highlights: Die Bergetappe gemeistert – der eiserne Wille hat mich zum Gipfel getragen – ich laufe lieber hoch als runter – Waldwege sind die schönsten! – SO STOLZ auf mich – eine Pokémon Go Arena auf dem Hörnli besetzt – mitten über eine Kuhweide gelaufen – Kühe am Abhang rennen sehen – schöne Kuhlissen genossen – möglicherweise „verrückten“ Jogger beim dritten Anlauf im Marathontraining gesehen – immer noch keine Beschwerden, kein Muskelkater – keine Blasen!

Tag 4 – von Gibswil nach Rapperswil

32.818 Schritte, 22,1 km und 5:21 Stunden Gehzeit

Besonders beeindruckt haben mich auf dem Schwabenweg die Menschen selbst. Findet man im Stadtleben öfter auch mal Ruppigkeit, Ungeduld und Misstrauen vor, so begegneten uns auf unserer Pilgertour ausschließlich Herzlichkeit, Wohlwollen und Freude. So einen unglaublich liebevollen Umgang mit den Mitmenschen und der Natur habe ich zuvor noch nie erleben dürfen und ich kann euch gar nicht sagen, wie glücklich mich jede einzelne Begegnung gemacht hat.

Die Schweizer Flagge

In einem kleinen Dorf, das mehr einer Ansammlung von Häusern glich, bellte uns plötzlich ein Hofhund an. Der Besitzer beschwichtigte das Tier und kam daraufhin sogleich mit uns ins Gespräch. Er lud uns ein, in seinem hübschen, sonnenverwöhnten Garten zu rasten und uns zu erfrischen. Für einen Spottpreis gab es köstliche Getränke, einen handzahmen vierbeinigen Pausenüberwacher und obendrein einen Blütentraum als Augenschmeichler zu genießen. Der pilgerfreundliche, ältere Herr gesellte sich zu uns, plauderte, bot frisches Wasser und sanitäre Anlagen und war so voller Freude und Liebenswürdigkeit, dass ich mich wohl für immer an ihn erinnern werde.

Lichtspiele und Blumenmeere

Vielleicht kann man gar nicht anders, wenn man in einer solch schönen Landschaft lebt und sich auf die Ursprünglichkeit des Lebens besinnt, als nett und aufgeschlossen zu sein. Womöglich verlieren wir in den Städten mehr als unsere Identität, wenn wir zu einer gesichtslosen Masse verschmelzen. Die Anonymität schützt und schadet uns zugleich, der konstruierte Lebensstil entfremdet uns von dem, was wir eigentlich sind. Ich will Städte nicht verteufeln, ich lebe selbst in einer. Aber das Bewusstsein, dass es immer wieder nötig ist, zum Ursprung zurückzukehren, um sich an das Wesentliche zu erinnern, bleibt.

Unser Zentralstern

Was bedeutet Menschsein? Wie gehen wir miteinander um? Zu Beginn habe ich euch verraten, dass ich häufig im Zwiespalt lebe. Entweder bin ich mit meiner Behinderung der Sonderling oder ich bin isoliert mit Gleichgesinnten. Was ich in Wirklichkeit möchte, ist das, was ich auf dieser Reise erlebt habe. Ich möchte einfach Ich sein, nicht die mit dem Handicap, sondern nur Lizzi. Mit den schlechten Augen, dem weiten Geist, dem philosophischen Touch, dem Nerd-Wahnsinn im Hinterkopf, der Schokosucht und allem anderen, was dazugehört. Meine Wanderbegleiter haben mich für diese kurze Zeit in der Welt leben lassen, die ich mir wünsche. Ich bekam dann Unterstützung, wenn ich sie brauchte und wurde in ihre Mitte aufgenommen als Gleichberechtigte, als gleichgestelltes Mitglied wie die Ritter der Tafelrunde. Wir hatten unheimlich anregende, lustige, tiefgründige und weitreichende Gespräche, die mir sehr viel bedeutet haben… es tat so gut, Teil von etwas zu sein, dass sich nicht konstruiert, nicht falsch, nicht erzwungen anfühlt. Manchmal muss der Mensch einfach sein.

Chillen am See

Die Jugendherberge von Rapperswil bildete den heuten Abschluss und wir kamen in den fragwürdigen Genuss von Nudeln, Hackfleisch und Apfelmus, eine Mahlzeit, die wir uns nach einer aufreibenden Suche nach Steckdosen für die Smartphones in Sechsbettzimmer redlich verdient hatten.

Rapperswil

Highlights: Romantische Rosen bewundert – keine Angst vor Hund Elli gehabt – den Duft eines kurzen Regenschauers auf aufgeheizten Steinen genossen – die Rapperswiler Innenstadt erkundet – am Seeufer des Zürichsees in Tiefenentspannung verfallen und auf der Grenze zwischen Schlaf und Wachheit sanft dahingetrieben – Wasser gibt mir das Gefühl, anzukommen – eine echte Pilgerherberge besichtigt – Vanilleeis zum Nachtisch – unterm Bett herumgekrochen und Steckdosen gefunden – keine Schmerzen – keine Blasen!

Tag 5 – von Rapperswil nach Einsiedeln

29.725 Schritte, 21,1 km und 5:20 Stunden Gehzeit

Seit fünf Tagen erfreuten wir uns des allerschönsten, klaren Wetters, das den Himmel in malerisches Blau tauchte, zarte weiße Wölkchen aufs Firmament hauchte und die Wiesen saftig grün färbte. Die warme Luft vibrierte vor Leben, der sanfte Klang unzähliger Kuhglocken wehte uns von Hängen entgegen und begleitete unsere leichten Schritte dem vorläufigen Ziel entgegen. Für mich ist das Pilgern, das Wandern, das Unterwegssein in dieser kurzen Zeit zum Alltag geworden. An schöne Dinge gewöhnt man sich einfach zu schnell! Morgens frühstücken, den Rucksack überwerfen und wieder raus auf die Straßen und Wege weg vom gesellschaftlichen Treiben, vom Konsum, vom Rausch der Oberflächlichkeit und fort mit dem Strom der Gelassenheit. Ein seltsames Gefühl, wenn man einen völlig geregelten Alltag hat und einem doch unerwartet ein kleiner Gedanke zuflüstert: „Das hier könnte auch dein Alltag sein“ und du weißt, dass er recht hat und du so glücklich werden würdest. Aber wie man Dunkelheit braucht, um zu erkennen, was Licht ist, so braucht man den täglichen Wahnsinn ebenso dafür, um wertzuschätzen, was besonders, was wahr und was gut ist.

Die Brücke über den Zürichsee

Je näher wir dem Kloster in Einsiedeln kamen, umso schwerer fühlte ich mich innerlich, denn ich wollte nicht mehr zurück in das Alte, wollte einfach weiter laufen und bis zum Impuls des Stehenbleibens nicht mehr anhalten… gleichzeitig merkte ich, dass mir der Sinn nach Regen stand. Fast schon zu schön, zu zauberhaft, zu wunderbar waren die gleißenden Sonnenstrahlen auf den roten Ziegeldächern, zu hypnotisch der Ruf der Natur. Ich hatte in den vergangenen Tagen so viel Glück und Zufriedenheit empfunden, dass ich nun beinahe leer war, dass es mir fast zu viel wurde. Wo war das Aufatmen, die Abkühlung, das Klarwerden? Das alles würde mich am nächsten Tag zu Hause erwarten und ich würde es bitter nötig haben. Aber genauso gewiss wie das Bedürfnis nach einer emotionalen Regeneration war und ist das Wissen darum, dass diese Art des Lebens gerade erst angefangen hat, dass mein Weg weitergehen wird, dass noch sehr viel vor mir liegt und darauf freue ich mich aus den unerschöpflichen Tiefen meines Herzens.

Zürichsee aus Distanz

Highlights: Stempel im Kloster Einsiedeln vergessen – gleichgesinnten Pilger getroffen – einen weiteren heftigen Anstieg überwunden – Zähne zusammengebissen, durchgehalten, gekämpft und gesiegt – alle in Einsiedeln wiedergetroffen – von Heilquelle vor dem Kloster getrunken – Süßigkeiten auf der Heimfahrt genascht – IMMER NOCH SO STOLZ AUF MICH – vom Team Pilgertour zum Team Familie: heimgebracht werden und im eigenen Bett schlafen!

Fazit

Es war ein atemberaubendes Erlebnis, das zugleich Ruhe und Aufregung in mein Leben brachte. Es vertiefte meine Wurzeln, verflocht mich inniger mit der Natur und verlieh meinem Geist Flügel von gigantischer Spannweite, die ihn hinauftrugen und weit blicken ließen. Mein Herzschlag wurde eins mit dem Puls des Lebens und nie zuvor habe ich mich so echt, lebendig und unendlich gefühlt… zerrissen und vereint im ewigen Ringen von Glück und Sehnsucht… im explodierenden Zentrum des Feuerwerks aus Gefühlen und der stillen Gewissheit im Auge des Sturms unserer Welt.

So glücklich

Eines meiner liebsten Gefühle ist die Gänsehaut, die Epik auslöst und auch wenn fünf Tage nur ein Wimpernschlag des Universums sind, so erzählten sie mir doch die packende, faszinierende, einfache, tragische, wunderschöne Geschichte des Kosmos, deren Kapitel immer unvollständig bleiben werden.


Da mir dieser Blogbeitrag extrem viel bedeutet, nehme ich mit ihm an der Blogparade „Dein bester Reise-Blogbeitrag 2018“ teil. Ich betreibe zwar keinen Reiseblog, doch es war mir eine Freude und eine Ehre, dir von dieser wundervollen, bedeutsamen Reise zu berichten und wenn nur ein Funke des Feuers, das seither in mir brennt, zu dir übergesprungen ist, bin ich von Herzen glücklich darüber.

8 Kommentare zu „Mein Schwabenweg von Konstanz nach Einsiedeln

  1. Liebe Helene,

    was für ein wunderschönes, berührendes Feedback! Ich danke dir herzlich dafür! Und ich wünsche dir ebenso von ganzem Herzen, dass du deinen Schwabenweg in diesem Jahr gehen kannst! Es ist so eine großartige Strecke – aber geschwärmt habe ich in meinem Bericht ja genug 😉

    Dann sage ich schon mal Buen Camino und alles Liebe
    Lisa

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  2. Liebe lizzi , dein bericht hat mich so sehr berührt dass ich weinen musste . Da ich seit diesem jahr in rente bin und genug zeit habe , möchte ich nächstes jahr von konstanz nach einsiedeln pilgern . Ich hoffe dass es trotz corona klappt und ich bis nächstes jahr jemanden finde der mit pilgert . Ich wünsche dir für deine zukunft alles liebe und gute und weiterhin solche schöne wander / pilgererlebnisse und solche berührenden berichte . Liebe grüsse lene

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  3. Liebe Lizzi, es war mir eine Freude, deinen interessanten und berührenden Bericht zu lesen. Ich wünsche dir weiterhin wunderbare Wandererlebnisse mit gleichgesinnten Menschen. Alles Liebe, Barbara

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  4. Lieber August,
    als ich heute morgen deinen Kommentar gelesen habe, da ist mir richtig warm ums Herz geworden! Herzlichen Dank für diesen schönen Start in den Tag!
    Lg Lizzi

    PS: Der nächste Wanderbericht folgt in Kürze…

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  5. Liebe Lizzi, ich Danke Dir für Deinen wunderschönen Bericht, der mich bis in der Tiefe meiner Seele erreicht hat. Ich kann sehr viel nachempfinden und wünsche Dir weiterhin viele schöne und glückliche Momente auf Deinen Wandertouren. Liebe Grüße

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  6. Hi Anne,

    freut mich, dass dir mein Beitrag so gut gefällt. Ich muss zugeben, das ist einer meiner absoluten Favoriten 🙂 Das war aber auch ein wunderschönes Abenteuer – ich kann es kaum erwarten, dass es schon in einem Monat weitergeht…

    Liebe Grüße
    Lizzi

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  7. Lizzi,wie wunderbar motivierend, welch tolle Erfahrung. Genauso geht es mir auch! Ich möchte jetzt auch so eine wunderbare gemischte Gruppe finden. Kein Sonderling, nicht isoliert. Toll. Da googele ich doch gleich mal.

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