Die meisten, die mich kennen, wissen auch, dass ich ein sehr geduldiger, freundlicher und ruhiger Mensch bin. Was sie offenbar nicht wissen, ist, dass ich ein Mülleimer, ein Boxsack und Fangnetz für persönlich-emotionalen Ballast bin!

Tja, so kommen neue Seiten an mir hervor, nicht wahr? So habe ich mich bisher noch nie gesehen, aber es scheint momentan die einzige Erklärung dafür zu sein, dass wildfremde Leute meinen, mit mir dementsprechend umzugehen. Soviel Positives ich bereits von anderen erfahren habe, soviel Negatives kommt aus der Gesellschaft auf mich eingeströmt.

Drei Schlüsselmomente

Innerhalb von wenigen Wochen kam es dreimal zu, für mich, sehr unangenehmen Situationen. Du weißt ja, dass ich hochgradig sehbehindert bin. Dementsprechend trage ich eine Sonnenbrille und markiere mich meistens mit einem kleinen gelben Button mit drei schwarzen Punkten am Kragen. Eine Blindenbinde oder einen Langstock habe ich nicht (das kann man jetzt finden, wie man will). UPDATE: meine veränderte Situation findest du hier

An einem bewölkten Tag stand also die böse, asoziale Lizzi, moi, an einer Hausecke in ein Gespräch vertieft, als ein älterer Mann sie in grob unfreundlichem Ton darauf hinwies, dass sie keine Sonnenbrille bei dem Wetter brauchen würde und sie absetzen solle.

HALLO? Geht’s eigentlich noch? Welche Anmaßung, so mit mir zu reden, Sehbehinderung hin oder her. Ich bin ein Mensch, ein fühlendes Wesen, das gerne anderen hilft, offen und herzlich auf Personen zugeht und Gefühle hat. Warum um alles in der Welt bildet sich dieser Kerl ein, so mit mir reden zu dürfen? Woher nimmt er sich das Recht, mir zu sagen, was ich brauche und tun soll? Was habe ich ihm getan? Schmerzt ihn mein Sonnenbrillentragen? Fühlt er sich dadurch belästigt? Habe ich ihm etwas getan? Nein, habe ich nicht! Natürlich habe ich ihm dann, in sehr bestimmten Tonfall, gesagt, dass ich eine schwere visuelle Beeinträchtigung habe und weit weniger als 10 % sehe. Seine Reaktion: etwas betroffen und versehen mit dem saudummen Spruch: „Das konnte ich ja nicht wissen.“ Ach, sag bloß, wenn du es gewusst hättest, wärst du nicht so dumm zu mir gewesen? Wieso? Weil ich jetzt für dich eine Behinderte bin? Danke, echt. Immerhin bist du nicht asozial gegenüber Menschen mit Handicap. Mensch, bist du eine tolle Person. Da habe ich ja richtig Glück, dass ich behindert bin, oder? Sonst wärst du ja weiterhin respektlos mir gegenüber… dann bin ich wohl als einfache Person weniger wert? Irgendwas stimmt doch da nicht. Wieso bin ich einen Satz später eine völlig Andere und warum ist es okay, mir als Mensch aggressiv aufgrund einer Äußerlichkeit zu begegnen und mir als Sehbehinderter plötzlich halbwegs reumütig gegenüber zu stehen?

ICH VERSTEHE ES NICHT!

Oder eines Morgens stieg ich in den Zug, setzte mich und tippte eine WhatsApp-Nachricht, die dunkle Brille auf der Nase, das Smartphone nahe am Gesicht.

„Kann man echt so blind sein?“ fragte mich der vorbeigehende Schaffner mit einem irgendwie vorwurfsvoll klingenden Unterton in der Stimme. ER IST VORWURFSVOLL??? Echt jetzt? 

„Ich BIN fast blind“, entgegne ich mit einer todesruhigen Stimme, eiskalt. „Ich sehe nicht mal 10 %.“

„Das konnte ich ja nicht wissen“, antwortete der gute Mann doch tatsächlich schlicht und ging weiter. Meine Fahrkarte wollte er dann nicht mehr sehen.

„Ob Sie das wissen oder nicht, ist mir völlig egal. So müssen Sie trotzdem nicht mit mir reden, ich habe ihnen nichts getan“, gab ich zurück und wandte mich wieder meinem Handy zu. Ich hörte seine Schritte auf dem Gang verklingen und ein Teil von mir hoffte, er würde sich wenigstens etwas schuldig, ertappt und vor allem einsichtig fühlen. Vielleicht, dachte ich, sagt er sowas Unbedachtes zukünftig nicht mehr zu Fremden, deren Geschichte und Lebensumstände er nicht kennt. Mir tut so etwas weh, es schneidet mir ins Herz, diese Ablehnung, dieses Unverständnis, diese Dreistigkeit, mir so lieblos zu begegnen.

Leute, ich bin wirklich kein überempfindlicher Mensch. Ja, schon etwas sensibel, das gebe ich zu und emotional tiefgehend, aber sicherlich bin ich nicht sofort beleidigt, wenn man mal etwas Unüberlegtes zu mir sagt.

ABER ICH HABE KEINE LUST, IMMER SOLCHEN MIST ABZUBEKOMMEN!

Genauso war es neulich auch, als ich meinen Rollrucksack hinter mir herzog und dabei, so dachte ich, leicht einen Zugsitz streifte. Es stellte sich allerdings kurz darauf heraus, dass es sich dabei um das Bein einer älteren Dame gehandelt hatte, denn richtig motzig und trotzig fauchte sie mich anklagend an, das sei ihr Fuß gewesen. Natürlich habe ich mich dafür entschuldigt und ging weiter, denn ich maß der Sache keine große Bedeutung bei. An der Türe vor dem Einfahren in den Bahnhof stand sie dann einige Minuten später hinter mir und blubberte mir in den Rücken, ich hätte mich, wenn ich ihr schon über die Füße rolle, auch entschuldigen können. Ähm, okay… vielleicht hört sie schlecht? Ich sagte ihr, etwas genervt, weil mir die Intonation wirklich nicht gefiel, dass ich mich entschuldigt habe und ich nichts dafürkönne, dass sie es nicht gehört habe. Das wollte sie dann nicht glauben und wies spitz darauf hin, dass sie zwar an den Augen operiert sei, jedoch gut höre. Da musste ich schmunzeln. Interessant, eine Erklärung für ihre Sonnenbrille? Für ihr Verhalten allerdings nicht. Gut, sie kann es ja nicht gehört haben, schon in Ordnung. Sie hat sich davor bereits beim Schaffner über die Hitze beschwert und auch schon andere im Zug angemeckert und da dämmerte es mir: diese Frau ist durch ihre Augenoperation, von der sie gesprochen hatte, völlig mitgenommen und verletzt. Wer weiß, was diese OP für sie bedeutet. Sie muss es irgendwo rauslassen und – welch ein Glück – da bin ich.

Mein Rucksack hat sie leicht gestreift, kein Grund, so penetrant zu sein und nicht von einer Kleinigkeit abzulassen, aber sie brauchte das. In dem Moment beschloss ich, ihr nicht Kontra zu geben und nicht zu sagen, dass ich vermutlich weniger sehe als sie. Oder, dass ich nicht kürzlich an den Augen operiert wurde, sondern schon mein Leben lang diese Beeinträchtigung habe. Es ist kein Wettkampf und Behinderungen sind nicht vergleichbar. Ich ließ sie gewähren, weil ich stärker war als sie, jedenfalls in dieser Situation, in diesem Moment. Ich brauchte es nicht, sie zu zerschmettern.

Das habe ich nicht nötig, denn ich bin mit mir im Reinen, jedenfalls meistens. Doch auch ich habe nicht immer meine dicke Haut dabei, denn es ist anstrengend, sie andauernd zu tragen. Sich immer stark zu geben, standhaft zu bleiben und das Anstürmen der Oberflächlichkeiten, der Bewertungen und Verurteilung auszuhalten – das kostet enorm viel Kraft.

Es nervt mich, dass ich dafür herhalten muss, dass andere mit sich unzufrieden sind, Frust haben oder ängstlich sind. Das ist wirklich nicht mein Problem! Versteh mich nicht falsch, ich wünsche mir, dass es allen gut geht. Aber nicht auf meine Kosten. Gerne HELFE ich dabei, deren augenblickliches Problem zu lösen. Manchmal reicht es, wenn man zuhört, manchmal muss man den Spiegel hochhalten, damit sie verstehen, was sie wirklich bewegt und manchmal reicht ein liebes Wort. Aber ein Punching Ball bin ich nicht und will ich auch nicht sein.

Vielleicht haben manche, die so etwas zu mir sagen, gerade ihre Sorgen, vielleicht sind sie unglücklich und mit sich nicht im Reinen. Schön und gut. Ich bin nicht dafür da, dass man seinen Unmut an mir auslässt. Ob ich nun eine Sonnenbrille trage oder nicht, ob ich nun gekennzeichnet bin oder nicht. Es sollte darum gehen, dass ich ALS MENSCH ordentlich und wertschätzend behandelt werde. Mit Sonnenbrille sticht man immer heraus, wenn nicht gerade unser Zentralstern mit aller Macht strahlt. Da ist man, aus mir nicht ganz offensichtlichen Gründen, wohl ein gutes Ziel – vielleicht wirkt man schwach oder unzugänglich oder arrogant… Ich will nicht erst sagen müssen, dass ich eine Behinderung habe, damit die Leute freundlich zu mir sind.

Ach, steckt euch euer dummes Mitleid, eure wimmernde Reue nach solchen Sprüchen und blöden „Das wusste ich ja nicht“s doch hin wo keine Sonne hinscheint. Ehrlich, das brauche ich nicht. IHR braucht offenbar jemanden, der euch hilft, der euch auffängt, euch eure Unzufriedenheit nimmt, euch unterstützt, euch wertschätzt, euch liebt. Kann ich gerne tun, ich habe genug Licht und Liebe für euch, aber ICH BIN KEIN MÜLLEIMER!

Ihr habt offenbar ein ganz furchtbares Leben, denn wärt ihr ausgeglichen und mit euch in Harmonie, würdet ihr nicht mit anderen Lebewesen so sorglos und verletzend umgehen. Jedem sollte bewusst sein, dass gesprochene Worte tiefer verletzen können als Waffen und jeder, der einem anderen bewusst dumm kommt, der ihn blöd anmacht, tut das nicht ausversehen. Nur weil man die Wunde nicht sieht, ist sie dennoch da! Wer ist jetzt eigentlich fast blind? Was soll ich denn bitte sagen? Denkt ihr, ein Leben mit Sehbehinderung ist witzig? Hahaha, ich lache mich tot! Sooo lustig, immer anders zu sein, immer aufzufallen, immer Hilfe zu brauchen, immer auf tausend Umstände achten zu müssen, die für alle anderen selbstverständlich sind und immer auf dem Präsentierteller, weil man sich nicht in der Bedeutungslosigkeit des Mainstreams verstecken kann, wenn man eine Pause braucht. Hahaha, einfach klasse! Und lasse ich das an anderen aus? Laufe ich pöbelnd und unfair verurteilend herum? NEIN, tue ich nicht! Natürlich rede ich über meine Probleme, ich teile sie mit anderen und wir gehen die Sache gemeinsam an. GEMEINSAM! Nicht gegeneinander!

Eines weiß ich sicher: wenn ich noch ein „Oh, das wusste ich ja nicht“ höre, raste ich vollkommen aus! Echt, kein Witz! Mein Gegenüber wird sich danach nie wieder trauen, so mit anderen umzugehen. Ehrenwort.

Wenn sich die Menschen mit etwas mehr Liebe und Hilfsbereitschaft begegnen würden, wäre es für alle leichter. Wieso ballern wir mit unserem emotionalen Ballast um uns? Weil wir Angst haben zu zeigen, dass wir uns fürchten, dass wir unglücklich sind, dass wir Hilfe brauchen. Es ist nicht so, dass ich das nicht verstehe! Im Gegenteil. Es ist viel leichter, eine geballte Ladung Unmut an seinen Mitmenschen auszulassen, das sind ja Unbekannte, nur verschwommene Gesichter, die im Fluss des Alltags an uns vorbeiströmen. Perfekt, um mal kurz verbal reinzuschlagen, damit der eigene innere Schmerz für eine Sekunde nachlässt, nur um festzustellen, dass er danach wiederkommt, dass er sich nicht auflöst, dass er weiter brennt!

Tolle Leistung, Wüterich, du riskierst lieber, jemandem wehzutun, als dein Leid einzugestehen und es anzugehen. DU FEIGLING!

Du hast Angst, das weiß ich. Bekomme sie in den Griff, lass dir helfen, dir selbst zu helfen und LASS MICH DAMIT IN RUHE! Bitte mich um Hilfe, um Verständnis und Energie und ich gebe sie dir von Herzen gerne. Schlage nach mir und du wirst sehen, was Wechselwirkung wirklich bedeutet. Das verspreche ich dir.

Ein Kommentar zu „Wechselwirkung der Emotionen

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